Nachruf Ein Wissenschaftler von Weltrang

Bonn · Karl Dietrich Bracher, der Gründer des Politischen Seminars Bonn, ist mit 94 Jahren gestorben. Als einer der Ersten in Deutschland, und lange als Einziger überhaupt, analysierte er die NS-Machtergreifung, den Aufstieg und Fall der NS-Herrschaft.

 Karl Dietrich Bracher (3. von links) 1993 in der Bonner Universität mit (von links) Ordenskanzler Hans Georg Zachau, Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Universitätsrektor Max Huber.

Karl Dietrich Bracher (3. von links) 1993 in der Bonner Universität mit (von links) Ordenskanzler Hans Georg Zachau, Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Universitätsrektor Max Huber.

Foto: General-Anzeiger

Als Radikaldemokrat hätte er sich selbst sicher nie bezeichnet. Er war nicht so für Festlegungen. Und doch: Karl Dietrich Bracher war einer, für den die Grundsätze der Demokratie die einzige Basis für einen freiheitlichen Rechtsstaat bilden. Wer die frühen Schriften des Bonner Gelehrten liest, wer seine nüchternen Analysen der ersten Großen Koalition durcharbeitet oder seine Reden zu den Notstandsgesetzen, dem wird dieser zeitlose Weitblick auffallen. So mancher Aufsatz des Politikwissenschaftlers und Historikers wirkt auf verblüffend-erschreckende Weise wie eine kritische Abhandlung zur aktuellen politischen Situation, die Debatte um den Umgang mit der AfD oder die immer mehr verkümmernden Oppositionen in den Länderparlamenten. Der renommierte Wissenschaftler und Begründer des Seminars für Politische Wissenschaften der Universität Bonn, Karl Dietrich Bracher, starb am Montag im Alter von 94 Jahren – ein Wissenschaftler, der wohl wie kaum ein anderer Politikwissenschaftler die Bonner Republik prägte.

Was Bracher so auszeichnete, das war sein untrüglicher analytischer Blick, die Mischung aus einer geradezu angelsächsischen Nüchternheit, profundem Wissen historischer Abläufe und deren kühle Einordnung in größere Zusammenhänge. Dazu kam sein „Mut zur klaren Stellungnahme“, wie Ludger Kühnhardt, sein letzter wissenschaftlicher Assistent vor dessen Emeritierung 1987, betont. Für Kühnhardt, heute Direktor des Zentrums für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Uni Bonn, war Bracher aber auch einer, der bis zuletzt bei Gastvorträgen immer wieder für das „schonungslose Lernen aus der Geschichte“ plädierte. Egal ob in Deutschland, den USA, Russland oder China.

Er bliebt, bis auf einigeGastprofessuren, stets in Bonn

Bracher, 1922 in Stuttgart geboren, legte 1940 sein Abitur ab, erlebte in dieser Zeit hautnah die Entstehung des totalitären Hitler-Staates mit. Als er 1943 als Mitglied des Afrika-Korps in amerikanische Gefangenschaft geriet, lernte er die USA kennen. In der Nähe von Concordia in Kansas baut er mit anderen im Lager eine Universität auf. „Ich gab Lateinkurse“, erinnerte er sich bei einem Gespräch an seinem 90. Geburtstag. 1959 kam er nach Bonn.

Dass Bracher ein Wissenschaftler von Weltrang war, bewiesen nicht nur die vielen Rufe zu Universitäten in Harvard, Washington, Florenz und anderen Hochschulen. Karl Dietrich Bracher blieb indes, bis auf einige Gastprofessuren, stets in Bonn. Es ist diese Bescheidenheit, die Bracher stets prägte. Auch seine Arbeiten. Er gehörte nicht zu jenen, die mit lauten Vokabeln hantierten. Verbale Posaunen waren seine Sache nicht, dazu war er viel zu sehr der Wissenschaft verpflichtet.

1955 habilitiert Bracher über die „Auflösung der Weimarer Republik“. Die Schrift gilt heute noch als Standardwerk. „Das Machtvakuum und der Mangel an Selbstschutz – diese beiden Kategorien, die Bracher für den Weimarer Verfallsprozess herausarbeitete, blieben nicht nur analytisch entscheidend, sondern wurden ganzen Generationen von Wissenschaftlern Maßstab für die vielen Durchleuchtungen der Stärken und Anfälligkeiten des Grundgesetzes“, sagt Kühnhardt.

Wenige Tage nach dem folgenschweren Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 weist Bracher auf Tendenzen der Entdemokratisierung hin: „Wir stehen vor der Tatsache, dass die Maßstäbe, die das Grundgesetz bestimmt haben, zunehmend in Frage gestellt oder eingeschränkt werden; dass weniger von Demokratie und unteilbarer Freiheit, wieder mehr und mehr von Staatsautorität und nationalbewusster Politik gesprochen wird.“

Für die Studentenbewegung galt er als Lichtgestalt

Für die Studentenbewegung gilt der junge Wissenschaftler als Lichtgestalt, vor allem, weil er als einer der Ersten in Deutschland, und lange als Einziger, überhaupt die NS-Machtergreifung, den Aufstieg und Fall der NS-Herrschaft analysiert. Der damalige Bonner Studentenführer und spätere Historiker Hannes Heer schrieb über Bracher, er habe sich „gegen alle Versuche fortschrittlicher Studenten, ihn auf den Schild des tribunus plebis zu heben, abgesichert“. So war Bracher eben. Er ließ sich nicht instrumentalisieren, aber er liebte die Debatte. „Er war Studenten gegenüber sehr offen zugewandt“, so der frühere Bonner Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Bürger für Beethoven, Stephan Eisel, der bei Bracher promovierte. „Seine Hauptseminare und Doktorandenkolloquien waren offene Foren.“ Rund 120 Schüler hat er promoviert, unter ihnen auch Margarita Mathiopoulos, gegen die Plagiatsvorwürfe erhoben wurden. Bracher hat das sehr getroffen. Bis zuletzt verteidigte er ihre Arbeit als „gut lesbar“.

Für die Studenten, auch die Medien, war Bracher eine Ausnahmegestalt im Unibetrieb. Bracher erinnerte sich vor vier Jahren: „Die Historiker waren damals der Meinung, alle Akteure müssten gestorben sein, bevor über diese Zeit überhaupt objektiv geschrieben werden könnte. Und es gab damals ja mehr alte Nazis als junge Leute.“

Kühnhardt: „Pluralität als Lebensweise – so könnte man sein Lebensmotto definieren in Absage an alle von ihm in einem langen Leben erfahrenen, erlittenen und glücklich überstandenen totalitären Denk- und Lebensformen.“

Trauerfeier und Beerdigung am Montag, 26. September, 12 Uhr, auf dem Poppelsdorfer Friedhof.

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