Kommentar zur deutschen Nationalmannschaft Establishment statt Wandel

Meinung | Moskau · Nach der Auftaktpleite der Nationalelf gegen Mexiko wird deutlich: Löw hat sich am Ende fürs Establishment entschieden. Dabei hätte er einige andere Möglichkeiten gehabt.

Die Lage der Nation schien vor den Toren Moskaus ebenso ernst, wie es die Asyl-Krise zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer derzeit in Deutschland selbst vorgibt. Alle Türen waren verschlossen im deutschen Teamquartier in Watutinki. Nichts sollte nach draußen dringen, das den Zustand der deutschen Nationalmannschaft in einem schlechten Licht dastehen lassen könnte. Selbst Weltmeister-Kapitän Philipp Lahm durfte sich nicht öffentlich äußern. Die angekündigte Pressekonferenz mit ihm: einfach abgesagt. Medienaktivitäten fanden nicht statt. Beim Training blieben Zuschauer ausgeschlossen. Vielleicht umtrieb die Herren des DFB die Sorge, einige Spieler könnten zu viele negative Energie vor die Tore tragen. Mats Hummels hatte sich ja schon am Vorabend nach der Auftaktpleite gegen Mexiko nur unter Aufbietung all seiner Kräfte dazu durchringen können, seinem Ärger nicht in noch deutlicher Art Luft zu verschaffen.

Die Kritik an seiner Mannschaft, die gerade den Anschein erweckt, dem beschleunigten Alterungsprozess hilflos ausgeliefert zu sein, hatte auch dem sonst so nonchalant daherkommenden Joachim Löw zugesetzt. Aber auch jene Kritik an seiner eigenen Person ließ den Bundestrainer dazu übergehen, die Palisaden hochzuziehen. Die Vorwürfe bezogen sich auf die Ignoranz des Bundestrainers, einem frühzeitigen Wandel zu mehr Dynamik und Durchschlagskraft zugestimmt zu haben. Der vor einem Jahr vorsichtig angekündigte Generationswechsel hat in der Spitze nur sehr bedingt stattfgefunden. Löw hat stets das Leistungsprinzip propagiert, sich am Ende aber fürs Establishment entschieden.

Er hätte andere Möglichkeiten gehabt: einen Startplatz für WM-Debütant- und Hoffnung Marco Reus statt Mesut Özil etwa, der schon vor der Erdogan-Affäre sportliche Verschleißerscheinungen in London offenbarte. Grundsätzlich geht es aber vor allem um Löws Anschauung, unbedingt an Bewährtem festhalten zu wollen. Mit der großen Schwierigkeit, nun einen Richtungswechsel im laufenden Prozess inszenieren zu müssen, geht für Löw das Turnier in die zweite Runde. Der Bedarf an Nachjustierung ist jedenfalls vorhanden. Ob Löw sie veranlasst, ist sehr fraglich. Ratsam wäre sie allerdings schon. Sonst bleiben womöglich nicht mehr viele Möglichkeiten, die Türen in Watutinki wieder zu öffnen.

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