Glosse zur Fußball-WM Die sechste Jahreszeit

Meinung | Bonn · Was bleibt nach der WM in Russland? GA-Redakteur Gert auf der Heide hat sich seine Gedanken gemacht - mit einem Augenzwinkern.

Es braucht keinen Videobeweis, um zweifelsfrei festzustellen: Deutschland steht im Abseits. Seit Wochen. Ausgeschieden in der Vorrunde, verbannt auf die Zuschauerränge. Ein wenig fühlt sich das so an wie früher, als die Latein-Streber, die weiter stoppen als schießen konnten, nicht mitspielen durften. Sie haben dann einfach ihre Hausaufgaben gemacht. Der deutsche Fußball tut das jetzt hoffentlich auch.

Hierzulande gibt es eine (junge) Generation, die hielt es bisher aus gutem Grund für ein Gewohnheitsrecht, wenn nicht für ein Naturgesetz, dass Deutschland bei einer WM ins Halbfinale kommt. Mindestens. War doch immer so. Außerdem haben die Eltern immer brav die GEZ-Gebühren überwiesen, und da sind deutsche WM-Spiele ja drin. Bekommt jetzt eigentlich jemand Geld zurück von der Gebühreneinzugszentrale (neudeutsch: Beitragsservice), weil die DFB-Elf so früh ausgeschieden ist?

Wer in den 1990er-Jahren das Licht der Fußballwelt erblickte und vielleicht ab 2002 genauer hinsah, ist so ein Halbfinaltyp. 2002 Finale, 2006 Halbfinale, 2010 Halbfinale, 2014 Titel. Man ist dann verwöhnt. Dass die Nationalelf in dieser Zeit zwei katastrophale Europameisterschaften spielte, geschenkt.

Auch wir Altvorderen haben es höchst selten erlebt, dass Deutschland am letzten WM-Wochenende schon zu Hause war. An diesem Samstag spielt England gegen Belgien um Platz drei, am Sonntag geht es bei Frankreich gegen Kroatien um den Titel. Für wen sind wir da eigentlich? Viele haben diese WM in den vergangenen Wochen seltsam distanziert verfolgt, empathiearm, wie durch Milchglas. Da war niemand mehr, mit dem man wirklich zitterte, dessen Tore aus Männern Primaten machten. Wer sich dieser Nüchternheit bewusst wurde, fühlte sich den Holländern plötzlich sehr nah. So ist das also, wenn man nicht mitspielen darf. Fast hatte man's vergessen.

Es tun sich seltsame Dinge in diesem Land, wenn eine WM den Verlauf nimmt, den sie eigentlich zu nehmen hat. Die Gattin, die Pressing für einen Vorgang im Kreissaal hält, hängt einen überdimensionalen Spielplan in der Küche auf und trägt mit dem Schlusspfiff ein, wie Tunesien gegen Panama gespielt hat. Andere Fußball-Ignoranten dozieren wortreich über das französische Umschaltspiel oder lassen sich über englische Elfmeterkünste aus. Die Kanzlerin verfällt in hektische Reiseaktivität und zeigt sich mit fast nackten jungen Männern in engen Räumen. Anzugträger laufen in seltsamen Hemdchen durch die Stadt, auf denen „Kroos“ steht. Auto-Fetischisten verkleiden Außenspiegel mit Ohrenwärmern. Und wenn alle vor großen Leinwänden zusammenkommen, nennt man das Public Viewing. Die Heimfahrt wird dann oft laut hupend im Korso absolviert, wobei die Polizei gnädig beide Augen zudrückt.

Man muss das alles nicht mögen, aber die meisten tun es. Wenn man so will, sind WM und EM die sechste Jahreszeit, die halt nur alle zwei Jahre vorkommt. Eine Art Zusatz-Karneval. Dass der Deutsche den Südamerikaner in sich entdeckte, nahm seinen Anfang 1990. Während der WM in Italien gab's die ersten Auto-Korsos, zaghaft noch und unter Einhaltung der Verkehrsregeln. Als Deutschland aber den Titel gewonnen hatte, strömten auch in Bonn die Menschen spontan ins Zentrum, blockierten den Berliner Platz vor dem Stadthaus und schüttelten Polizeiautos durch. Das Feierbiest war geboren.

2006 dann, bei der WM im eigenen Land, wunderte sich die Welt über diese lockeren Deutschen. Sie feierten, tobten sich auf Fan-Meilen aus, nahmen ihre Gäste in den Arm und tänzelten mit ihnen durchs Turnier. Berlin war in diesen Wochen die nördlichste Stadt Italiens – oder die östlichste Südamerikas.

Das alles haben uns die deutschen Fußballer geklaut, indem sie so früh ausgeschieden sind. Andererseits: War die Feierlaune zuletzt nicht arg inszeniert, von Unternehmen befeuert, in eine DIN-Norm gepresst? Wenn jeder Schokoriegelproduzent mit Klebebildchen hausieren geht, ist's langsam gut. Sollte das Vorrunden-Aus der DFB-Elf auch diese Erkenntnis reifen lassen, war die WM doch ein Erfolg für Deutschland.

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