Handball-WM So stehen die Chancen der Deutschen

Bonn · Am Donnerstag startet Deutschland gegen Korea ins Turnier. Der Titelgewinn von 2007 ist Ansporn, kann aber auch gewaltig nerven. Die Favoriten, die Stars, die Chancen der Gastgeber.

Man schrieb den 4. Februar 2007, als Handball plötzlich ein bisschen Fußball war. 30.000 Menschen feierten auf dem Kölner Alter Markt „Mimi“ Kraus, „Pommes“ Hens, Bundestrainer Heiner Brand und all die anderen. Viele Fans waren aus Deutz über den Rhein gekommen, um die Party noch ein wenig zu verlängern. Dort, in der Lanxess Arena, hatten die deutschen Handballer wenige Stunden zuvor durch einen 29:24-Endspielerfolg über Polen die Weltmeisterschaft gewonnen.

Jetzt bebte die Stadt. Sport-Deutschland befand sich nach dem Sommermärchen der Fußballer noch im Feiermodus und nahm das Wintermärchen der Handballer gerne auf. Auch Frauen hatten sich die Heiner-Brand-Schnäuzer im Django-Stil angeklebt. Nach Frühling, Sommer, Herbst, Winter und Karneval erfand Köln die sechste Jahreszeit. Handball. Deutschland einig Handball-Land? Nicht ganz, aber der Handball hatte das Land ganz schön in Wallung gebracht.

Andreas Wolff, heute der deutsche Torwart, war damals auch in der Halle, aber er ist es leid, darüber zu sprechen. „Das habe ich ungefähr eine Million Mal erzählt“, sagt er. „Das ist Vergangenheit. Wir haben jetzt 2019, wir wollen unsere eigene Geschichte schreiben.“ Das erste Kapitel wird an diesem Donnerstag in Berlin aufgeschlagen, wenn das deutsche Team die WM mit dem Spiel gegen Korea eröffnet (18.15 Uhr/ZDF).

Eine eigene Geschichte also. Unter dem Bundestrainer Christian Prokop war die Story der Nationalmannschaft bisher keineswegs ein Märchen. Eher ein Trauerspiel. Von der EM 2018 in Kroatien, Prokops erstem Turnier, kehrte die Auswahl des Deutschen Handball-Bundes (DHB) arg gerupft als Neunter zurück. Anschließend war von Dissonanzen zwischen Trainer und Team die Rede. Es dauerte einige Wochen, ehe sich der Verband zu Prokop bekannte.

Jetzt, ein Jahr später, scheinen die Risse einigermaßen gekittet zu sein. Das sagt selbst Finn Lemke, auf den der Bundestrainer 2018 zunächst überraschend verzichtet hatte. „Ich habe damals ein, zwei Tage gebraucht, um das zu verdauen“, erinnert sich der Abwehrchef. „Aber später haben wir darüber geredet, und jetzt ist unser Verhältnis gut.“ Längst ist Lemke unumstritten bei Prokop. Dafür ließ er diesmal Tobias Reichmann zu Hause – auch ein Europameister von 2016, auch ein vermeintlicher Leistungsträger, auch eine Entscheidung, die Konfliktpotenzial birgt.

Es erscheint gewagt, nur mit einem Rechtsaußen (Patrick Groetzki) ins Turnier zu gehen. Aber immerhin gibt es auf den Außenpositionen, am Kreis und im Tor eine Auswahl. Im Rückraum hingegen fehlt es an individueller Klasse. „Vor allem da müssen wir über die Breite kommen“, sagt Prokop immer wieder. „Es geht nur so, dass mehrere Spieler eine Position ausfüllen.“ Dass er für die Rückraummitte Zweitligaspieler Martin Strobel und für Halblinks dem international unerfahrenen Fabian Böhm vertraut, sagt einiges über die Nöte des Bundestrainers.

2007 sah es allerdings nicht viel anders aus. Weil die Zeit gnädig ist, blieben vor allem die großen Spiele in Erinnerung, die großen Leistungen: der fast fehlerfrei werfende Torsten Jansen, der aus dem Nichts gekommene „Mimi“ Kraus, der abgezockte Dirigent Markus Baur. Aber da waren Zweifel, große Zweifel.

Beim 29:30 im Test gegen Ägypten eine Woche vor dem Turnier deutete noch nichts auf den Titelgewinn hin, gar nichts. Baur, Florian Kehrmann und Oleg Velyky waren nicht fit, Kraus, Holger Glandorf und Torwart Henning Fritz nicht in Form. Dann zwei zähe WM-Siege gegen Brasilien und Argentinien. Brand nominierte den rüstigen Senior Christian Schwarzer nach, auch um die Emotionen zu befeuern. Dennoch ging das Gruppenspiel gegen Polen verloren. Erst nach und nach fand sich die Mannschaft, überstand enge Situationen, überlebte die Verlängerung gegen Frankreich. Aber da war nichts Leichtes, nichts Märchenhaftes. Alles war erarbeitet, erzwungen. Kein Märchen, eher ein Heldenepos. Auch vor diesem Hintergrund sind die Chancen des Teams von 2019 zu beurteilen.

Im Kern ist da immer noch der Kader, der 2016 unter Dagur Sigurdsson beinahe sensationell Europameister wurde. Auf Reichmann und Kai Häfner verzichtete Prokop freiwillig, Julius Kühn fällt wegen eines Kreuzbandrisses aus. Dafür ist diesmal Kapitän Uwe Gensheimer dabei, der in Polen verletzt fehlte. Eigentlich war die Mannschaft damals ihrer Zeit voraus, denn die Agenda 2020 sah einen Medaillengewinn bei der WM 2019 und Gold bei den Olympischen Spielen in Tokio vor. Auch deshalb schmerzte das Abschneiden bei der EM in Kroatien so sehr.

Immerhin, der Druck ist nun nicht mehr ganz so groß. Als Favoriten gelten andere: Olympiasieger Dänemark, Weltmeister Frankreich, Europameister Spanien, vielleicht die Schweden (EM-Zweiter 2018), theoretisch die Norweger (WM-Zweiter 2017), notorisch die Kroaten. Deutschland hat keinen Star wie den Dänen Mikkel Hansen und keinen aufgehenden Stern wie den Norweger Sander Sagosen, die aus dem Rückraum ein Spiel entscheiden können. Bezeichnend, dass die meisten Zeilen über Torhüter Andreas Wolff geschrieben werden.

Was für den Weltmeister von 2007 und Europameister von 2016 spricht, ist der Heimvorteil. Und die Begeisterungsfähigkeit der Menschen in dem Land, das den Handball einst erfand. Irgendwann während der Vorrundenspiele in Berlin oder spätestens während der Hauptrunde in Köln muss die Welle entstehen, die die Mannschaft ins Halbfinale nach Hamburg spült. Und womöglich auch noch nach Herning, wo Co-Gastgeber Dänemark das Endspiel ausrichtet. Erstmals überhaupt teilen sich nämlich zwei Handball-Verbände eine WM. Insofern sind Vergleiche mit 2007 ohnehin müßig. Köln wird am 27. Januar beim Finale aus der Ferne zugucken, die Heiner-Brand-Schnäuzer bleiben in der Karnevalskiste, Bundestrainer Christian Prokop trägt keinen Bart. Es braucht eine neue Geschichte.

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