Interview mit dem Sportsoziologen Klaus Cachay „Auch der Handball wird Khediras haben“

Bonn · Wenn Flüchtlinge in Sporthallen untergebracht werden, nimmt das dem Sport viele Chancen. Und es nimmt den Flüchtlingen viele Chancen, weil der Sport seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Der Bielefelder Sportsoziologe Klaus Cachay forscht zum Thema „Sport und Migration“. Mit Cachay sprach Gert auf der Heide.

Was würden die Menschen machen, wenn in Sporthallen kein Sport mehr betrieben werden kann? Was würden sie stattdessen tun?
Klaus Cachay: „Wir wissen es nicht. Wir können nur sagen, dass der organisierte Sport, der sich um Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren kümmert, eine unglaubliche gesellschaftliche Bedeutung hat. Er erbringt Erziehungsleistungen, ist bedeutsam für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, vermittelt Werte. Daneben vermittelt er auch ganz einfach Spaß. Wir können uns eine Gesellschaft ohne Sport im Grunde gar nicht vorstellen.

Welche Werte vermittelt der Sport?
Cachay: Fairness und Rücksichtnahme, Solidarität und füreinander Einstehen, Anstrengungsbereitschaft, mit Erfolgen angemessen umzugehen und Niederlagen zu verarbeiten. Sport vermittelt das Gefühl, ich kann etwas leisten und werde anerkannt. Menschen entwickeln eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sie knüpfen soziale Netzwerke und schließen Freundschaften, oft fürs Leben.

Demnach könnte Sport gerade Flüchtlingen einen guten Start ermöglichen.
Cachay: In dem Maße, wie Migranten am Sport teilhaben, ergeben sich Integrationseffekte: Hilfe beim Spracherwerb, Einführung in Regeln und Normen der Aufnahmegesellschaft, Hilfe bei der Bewältigung von Alltagssituationen bis hin zur Untersützung beim Bildungsprozess und der Platzierung am Arbeitsmarkt. Sport ist aber nicht weniger wichtig für die Migranten, die schon lange hier leben, und auch für die einheimische Bevölkerung.

Welche Möglichkeiten hat der Sport, sich zu wehren, wenn Hallen belegt werden? Darf er zivilen Ungehorsam leisten, vielleicht sogar Hallen besetzen?
Cachay: Bei der Beantwortung dieser Frage muss man aufpassen, nicht in die falsche Ecke gestellt zu werden. Wir müssen uns um die Flüchtlinge kümmern, fair und zum Wohle der Menschen. Aber es zeigen sich Überforderungssymptome des politischen Systems.

Welcher Art?
Cachay: Die Kommunen müssen auf Raum zugreifen, Raum ist schwierig zu beschaffen, also greift man auf den Raum zu, auf den man am einfachsten zugreifen kann – das sind die kommunalen Sporthallen. Damit verschafft man sich kurzzeitig Luft, das kann man akzeptieren. Aber dauerhaft darf das keine Lösung sein. Es betrifft ja auch die Schulen und den Schulsport. An diesem Punkt darf, ja muss der Sport sich melden, auf Alternativen hinweisen und deutlich machen: Politik, du machst es dir zu leicht, an die schwierigen Lösungen wagst du dich nicht heran. Und dies wäre keinesfalls Ungehorsam. Im Gegenteil.

Sie selbst kommen aus dem Handball. Provokant gefragt: Kennen Sie einen Syrer, der Handball spielt? Oder einen Türken? Und wie sieht es beim Volleyball und Basketball aus? Haben es die Ballsportarten verschlafen, auf Kinder mit Migrationshintergrund zuzugehen?
Cachay: Das hat die Mehrzahl der Sportarten lange nicht im Fokus gehabt. Es gab ja genug einheimischen Nachwuchs, deshalb war das kein Thema. Mittlerweile ist das anders. Nehmen Sie zum Beispiel den Handball, da werden immer mehr Spielgemeinschaften gegründet mit der Folge, dass immer mehr Kilometer gefahren werden müssen. Jetzt kommen diese Sportarten langsam in die Gänge und versuchen, sich dem Problem zu stellen. Aber die Umsetzung wird nicht so einfach sein.

Was können Verbände und Vereine tun?
Cachay: Sie sollten sich fragen, ob es etwa in ihrer Kommunikation nach außen Zeichen gibt, die Migranten so deuten können, dass es sich hier um geschlossene Systeme handelt. Man muss aber auch herausfinden, was Menschen wollen, die eine andere Kultur und eine andere Religion mitbringen. Es wird immer gesagt, in der Türkei werde kein Handball gespielt. Das ist richtig, aber es reicht als Erklärung nicht aus, weshalb Kinder der dritten Generation hier in Deutschland nicht Handball spielen.

Wo funktioniert Integration, wo nicht?
Cachay: Der Fußball hat viele Migranten als Mitglieder. Das gleiche gilt für die meisten Kampfsportarten. Aber in allen anderen Sportarten gibt es praktisch keine Migranten.

Brauchen diese Sportarten Migranten vielleicht sogar, um zukunftsfest zu werden?
Cachay: Ja. Sehen sie sich die Geburtenraten an: 1960 hatten wir 25 Prozent 0 bis 18-Jährige, 1990 noch 16 Prozent. Das ist seitdem einigermaßen konstant. Von dieser geringeren Zahl geht etwa die Hälfte zum Fußball. Um den Rest kämpfen die anderen Sportarten. In manchen Städten gibt es heute aber über 60 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund. Für den Bestand einiger Sportarten ist es deshalb notwendig, sich auch um diese Kinder zu kümmern.

Also kann etwa der Handball den Migranten helfen – und umgekehrt.
Cachay: So kann man das formulieren.

Was können Handball, Volleyball & Co. konkret tun?
Cachay: Sie müssen dort hingehen, wo Migrantenkinder sind. Sie sollten Angebote im Ganztag machen, und zwar dort, wo Migrantenkinder leben. Sie sollten Kontakt zu den Eltern herstellen, um Vertrauen zu schaffen Sie sollten sich um Übungsleiter und Trainer mit Migrationshintergrund kümmern. Das dauert aber Jahre und nicht zwei Monate. Es braucht Ressourcen und Personal. Ich registriere, dass die Vereine hochsensibel sind für dieses Thema. Und beim Deutschen Handball-Bund wurde mittlerweile eine hauptamtliche Stelle dafür geschaffen. Angenommen, Deutschland würde 2028 Handball-Olympiasieger, spielen dann auch Khediras und Özils in dieser Mannschaft? Cachay: Das wäre wünschenswert. Ich glaube, um international konkurrenzfähig zu bleiben, muss der Handball diesen Weg gehen. Warum sollte das nur beim Fußball klappen?

Wie werden wir in 20 Jahren Sport treiben? Noch im Verein oder völlig individualisiert im Fitnessstudio und auf der Joggingstrecke?
Cachay: Ich bin überzeugt davon, dass der Vereinssport weiterhin der wesentliche Bereich sein wird. Ohne den Vereinssport würde es die vielfältigen Formen des Wettkampsports in Deutschland nicht geben. Dieser Sport ist vor allem für Kinder und Jugendliche attraktiv. Und hier werden auch die Erziehungsleistungen des Sports erbracht.

Wird der Sport in seiner Bedeutung hierzulande angemessen wahrgenommen?
Cachay: Nicht immer. Die Diskussionen um Doping, Korruption und um die gescheiterten Olympiabewerbungen haben das noch verstärkt. Ich habe nicht den Eindruck, dass es dem Sport gelingt, seine gesellschaftlich Bedeutung angemessen zu unterstreichen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort