Löw-Revolution nicht in Sicht Nationalelf im Wandel - Maßstab bleibt "absolute Weltspitze"

Berlin · Der Ruf nach radikalen Veränderungen und neuen Namen ist laut. Auch personell soll im Nationalteam jetzt einiges passieren. Doch ein radikaler Schnitt ist schwer, birgt Chancen und Risiken, weiß der Bundestrainer. Für viele Positionen hat Löw nur wenige Alternativen.

 Joachim Löw bleibt Trainer der deutschen Nationalmannschaft und diese im Hinblick auf die WM 2022 umbauen.

Joachim Löw bleibt Trainer der deutschen Nationalmannschaft und diese im Hinblick auf die WM 2022 umbauen.

Foto: Ina Fassbender

Joachim Löw wird umbauen. Ein einfaches "Weiter so" hat der Langzeit-Bundestrainer nach dem WM-Debakel von Russland bereits ausgeschlossen. Eine Fußball-Revolution aber ist unter der weiteren Regie des Südbadeners kaum zu erwarten.

Zwar wollen die Chefs des Deutschen Fußball-Bundes bis zum Neustart der am Boden liegenden Nationalmannschaft am 6. September gegen Frankreich von Löw und Manager Oliver Bierhoff noch hören, welche neue Linie sie in Richtung EM 2020 und WM 2022 einschlagen werden. Doch Einfluss auf die Kurskorrektur hat die Verbandsspitze praktisch nicht.

Denn Löw und Bierhoff sind weiter die Entscheider. Erst einmal will das nach wie vor mächtige Duo nun "grobe Gedanken" zu einem Neubeginn strukturieren, kündigte der Manager an: "Es gibt keine Notwendigkeit, jetzt etwas zu verkünden", sagte Bierhoff. Es soll viele Gespräche geben auch mit den Spielern, die bei der WM total enttäuscht haben.

Ein radikaler Schnitt, etwa dass gleich alle Weltmeister von 2014 in den Auswahl-Ruhestand geschickt werden, dürfte ebenso wenig zu begründen sein wie nur kosmetische Maßnahmen. "Es braucht tiefgehende Maßnahmen, es braucht klare Veränderungen. Da müssen wir jetzt besprechen, wie wir das tun", hatte Löw schon nach der Rückkehr aus Russland angekündigt.

Auch Bierhoff setzt auf Wandel. "Es muss Einschnitte auf allen Ebenen geben", sagte der 50-Jährige in einem Interview der Tageszeitung "Die Welt" (Freitag). Er vertraue dabei auf Löw. "Ich weiß, er wird alles hinterfragen, auch unseren Spielstil. Und dann stellt sich die Frage, welche Spieler wir brauchen. Gehen Sie davon aus, dass die Mannschaft ein neues Gesicht bekommen und zeigen wird." Doch wie könnte dieses aussehen?

TOR: Kapitän Manuel Neuer (32) wird weitermachen. Seine Sonderstellung, die Löw seinem Kapitän nach langer Verletzungspause einräumte, löste bei einem Teil der Spieler Verwunderung aus. An Neuers persönlicher Leistung hat es nicht gelegen, dass Löw nun vor einem Scherbenhaufen steht. Allerdings schränkte die Konzentration auf den eigenen Formaufbau auch seine Einflussmöglichkeiten auf das unstabile Teamgefüge ein. Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona wird noch offener den Kampf um die Nummer 1 angehen. Wer als dritter oder vierter Keeper in den neuen Zyklus startet, ist wenig entscheidend.

ABWEHR: Die WM-Stammkräfte Jérôme Boateng und Mats Hummels (beide 29) sehen sich in einem guten Alter, um zumindest die EM in zwei Jahren noch zu spielen. Wer an beiden Innenverteidigern vorbei will, muss Überdurchschnittliches anbieten. Denn der Maßstab für einen Einsatz im DFB-Trikot muss noch immer - oder besser wieder - "die absolute Weltspitze" sein, wie es Löw stets formulierte. Die WM-Fahrer Niklas Süle (22) und Antonio Rüdiger (25) werden in der Hierarchie nicht automatisch nach oben rücken, weil sie jünger sind. Jonathan Tah (22) bleibt ein Kandidat, der Berliner Niklas Stark (23) hat gute Ansätze.

Jonas Hector muss mit dem zusätzlichen Handicap leben, nun in Köln Zweitligaspieler zu sein. Marvin Plattenhardt von Hertha BSC konnte links auch nicht überzeugen. Den Augsburger Olympia-Zweiten Philipp Max (24) wollte Löw vor der WM noch nicht, möglicherweise jetzt. Für die rechte Seite muss der Chefcoach eine Alternative für Joshua Kimmich finden. Der Leverkusener Benjamin Henrichs (21) wurde im Nationalteam schon getestet und (noch) für unreif befunden. Matthias Ginter hat wie schon bei der WM in Brasilien 2014 in Russland keine Minute gespielt, eigentlich ein guter Grund zum Aufhören.

MITTELFELD: Sami Khedira (31) hatte schon einmal über sein Karriereende nachgedacht. Löw könnte auf ihn künftig verzichten. Die große Unbekannte ist Mesut Özil (29), der sportlich und durch die Erdogan-Affäre zum Symbol für den Absturz wurde. Toni Kroos (28) dürfte als Real-Madrid-Profi eine Stütze im Nationalteam bleiben. Sebastian Rudy (28) verletzte sich in Russland, Ilkay Gündogan (27) konnten sich nicht empfehlen. WM-Finaltorschütze Mario Götze (26) braucht ein deutliches Hoch, um ins DFB-Team zurückzukehren. Der Gladbacher Lars Stindl (29) verpasste verletzt die WM.

Die Confed-Cup-Sieger Julian Draxler (24), Leon Goretzka (23) und Julian Brandt (22) könnten von Löw in der Hierarchie befördert werden. Der kurz vor der WM noch gestrichene Leroy Sané und Serge Gnabry (beide 22) haben guten Anlagen, um zum neuen Kader zu gehören. Für Marco Reus hat mit 29 die Auswahl-Karriere gerade wieder begonnen. Thomas Müller (28) ist nach 38 Länderspieltoren und einer persönlich schwachen WM noch nicht abgeschrieben, wenn er seine Lockerheit und Torgefährlichkeit zurückerlangt. Ob Talente wie Kai Havertz (19/Leverkusen) oder Arne Maier (19/Hertha) in ihren Clubs den nächsten Schritt machen, muss abgewartet werden.

ANGRIFF: Für Mario Gomez, der am kommenden Dienstag seinen 33. Geburtstag feiert, war es wohl das letzte Turnier. Der Leipziger Timo Werner (22) ist der Hoffnungsträger für die kommenden Jahre - und eigentlich der einzige. Die U21-Europameister Maximilian Philipp (24/Dortmund) und Davie Selke (23/Hertha) sind noch lange nicht dort, um im Nationalteam neue Akzente setzen zu können. Dem Freiburger Nils Petersen, den Löw überraschend mit ins WM-Trainingscamp genommen und dann aussortiert hatte, fehlt einfach die internationale Klasse. Löw steht vor dem Start in die Nations League vor einer riesen Herausforderung.

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