Abkehr vom Profifußball Es riecht nicht mehr nach Rasen

Bonn · Bunte Plastiktreter, seelenlose Arenen, Bezahlkarten statt Bargeld: Bei GA-Redakteur Moritz Rosenkranz hat durch die völlige Kommerzialisierung ein schleichender Abschied vom einst geliebten Profifußball eingesetzt.

Es war von vorn herein klar, dass es kein schöner Stadionbesuch werden würde: Der Herzensverein Eintracht Frankfurt mal wieder in akuter Abstiegsnot, da kommt ein Auswärtsspiel kurz vor Saisonende beim Topteam in Leverkusen nicht gerade gelegen.

Und so stand die kurze Fahrt vor einigen Wochen mit der S-Bahn von Köln in die "Farbenstadt" (wie Sportreporter Leverkusen gern nennen, wenn sie schon zu oft "Leverkusen" gesagt haben) unter dem Motto "Abschiednehmen" von der ersten Fußball-Bundesliga. Zumindest temporär. Doch was am Ende für deutlich mehr Frust gesorgt hat als die zwar erwartete, aber (tatsächlich) unverdiente 0:3-Niederlage, war etwas anderes: Bezahlkarten.

Es gibt mittlerweile derart viele Auswüchse im modernen Profifußball, dass die Leidenschaft für diesen Sport, die sich vor gut 25 Jahren bei einem Besuch des Müngersdorfer Stadions in Köln (ja, Stadien hatten einmal authentische, schöne Namen) eingenistet hatte, erst unbemerkt, seit einiger Zeit aber ganz bewusst wahrgenommen zurückgeht.

Fifa-Korruption, DFB-Lügen, Turniere in Unrechtsstaaten, völlig durchamerikanisierte und mit Werbung zugemüllte Berichterstattung im Bezahlfernsehen, selbst bei noch so klaren Entscheidungen dauerlamentierende Profis in bunten Plastiktretern, zerfledderte Spieltage mit bald sechs verschiedenen Anstoßzeiten, inhaltsleere Interview-Antworten der medientrainierten Stars, verzerrter nationaler Wettbewerb durch unermesslichen Reichtum der Champions-League-Teilnehmer. Dazu - und viel schlimmer - von Konzernen gepushte Retorten-Clubs, die zwar selten das Stadion, dafür aber stets das Bankkonto voll haben.

"Wichtig is' auf'm Platz" zählt immer weniger

Das Leiden der Fans am durchkommerzialisierten Fußball der Marketingkräfte, die gerne von "Optimierung der Erlösstrategien" statt von "Wichtig is' auf'm Platz" sprechen, hat jedoch deren Leidenschaft für den Fußball (bisher) kaum geschmälert. Selbst in Großbritannien nicht, wo die Premier League den einst so simplen Sport der Arbeiterklasse derart durchoptimiert hat, dass durchschnittsverdienende Fans von der Insel sich einen Stadionbesuch nicht mehr leisten können - die Folge: Friedhofsstille statt Atmosphäre.

Fußball-Deutschland erscheint ihnen geradezu als Paradies, weil die Befriedigung der Leidenschaft hier im Stehplatzblock vor Ort meist gerade noch so bezahlbar ist. Zunehmend fliegen die Engländer deshalb Richtung Schalke, Dortmund, Köln.

Ein weiterer Erlös-Optimierungsschritt hierzulande ist die angesprochene Bezahlkarte. Ihre Promoter verkaufen sie als "Innovation" und stellen heraus: "Das Nachzählen des Rück- und Kleingeldes entfällt." In Wahrheit vermiest das Ding dem Fan, der sich nicht als Kunde sieht, den Stadionbesuch ganz gehörig - und liefert, ganz nebenbei, das beste Argument gegen die generelle Abschaffung von Bargeld.

Ein Beispiel: Wer nicht regelmäßiger Besucher des Leverkusener Stadions ist, muss sich mindestens zwei Mal anstellen, ehe er dann etwas bekommt, das von Fleischartigem umhülltes Fett ist, welches sie Würstchen nennen und für 3,80 Euro verkaufen. Um solch ein Stadionwurst-Imitat aber in den Händen zu halten, muss man zunächst an einem Schalter anstehen und dort eine Chipkarte mit Bargeld aufladen. Ein zweites Mal stellt man sich dann an der (natürlich nicht von Würstchen-Willi, sondern von einer Kette betriebenen) Essensstation an, um dann - natürlich - noch einen Restbetrag auf der Karte zu haben.

Ordentlich Kasse mit dem "Schlummergroschen"

Viele Vereine (und Kartensystem-Betreiber) machen mit diesen "Schlummergroschen" ordentlich Kasse, weil sich zahlreiche Stadionbesucher nicht ein drittes Mal anstellen wollen, um den oft geringen Restbetrag zurückzuerhalten. Leverkusen hat dieses System perfektioniert: Die Auszahlung ist erst nach Spielschluss außerhalb des umzäunten Stadiongeländes möglich. Wer zwischendurch raus möchte, kommt nicht mehr rein.

Beim großen Nachbarn in Köln macht man es wieder besser: Nach ausdauernden Fan-Protesten führte der FC 2014 das Bargeld wieder ein. In Müngersdorf geht man seitdem wieder an einen Stand, bestellt, bezahlt, erhält Rückgeld, Speis und Trank - fertig.

Das Drama mit den gelobten modernen Stadien begann mit der im Zuge der WM 2006 aufgekommenen Notwendigkeit, neue Arenen in Fußball-Deutschland zu errichten. Wenn man Glück hatte, wie etwa die Kölner, Frankfurter oder Hamburger Fans, entstanden diese zumindest am traditionsreichen Ort des vormaligen Stadions. Wenn man Pech hatte, musste man nun weit raus aus der Stadt an ein Autobahnkreuz fahren, wo auf Brachland etwa die von München völlig entwurzelte Allianz-Arena entstand - umgeben von Parkplatzwüste, dafür aber mit "Fanshop-Erlebniswelt".

Rückblende: Ich habe Fußball Anfang der 90er Jahre kennengelernt. Damals waren Radio-Konferenz und Live-Ergebnisse via Videotext das Highlight der Woche. Es sei denn, es ging ins Stadion. Die Arenen konnte man selbst bei Fernsehübertragungen allein wegen ihrer Tribünencharakteristik noch leicht auseinanderhalten. Heute oft höchstens nur am Kamerawinkel oder den gerade aktuellen Bandensponsoren.

Auf den Tribünen injizierte Leidenschaft

Der entscheidende Unterschied: Die Besuche in Müngersdorf oder des Waldstadions hatten immer eine eigene Magie. Allein das erhabene Gefühl, wenn man die Treppen erklommen hatte und sich das weite Rund, dieser riesengroße unverwechselbare Raum, erstmals vor einem öffnete - ein Gänsehautmoment.

Die Leidenschaft für einen Verein und dessen Charakter wurden auf der Tribüne injiziert: Durch den spezifischen Geruch, die spezielle Atmosphäre und die von Stadion zu Stadion wechselnden Gegebenheiten - Sitzbänke oder Anzeigetafeln waren nirgends gleich. Heute riecht es nicht mehr in den Arenen, noch nicht einmal mehr nach Rasen.

Das Stadion von einst war ein Individuum, das von der Moderne zerbröselt und fast überall fast identisch neu entstand. So, als hätte man eine gewachsene historische Altstadt durch eine uniforme Shopping Mall ersetzt. Nichts für Liebhaber, die nicht überall das Gleiche sehen wollen, jedenfalls nichts Seelenloses und Steriles.

Diese verlorengegangene Einzigartigkeit versuchen viele Vereine mit durchchoreographierter Folklore (Köln) oder Slogans ("Mia san mia", "Echte Liebe") auf andere Art wiederherzustellen. Das klappt nicht überall: Trotz Zuschauerboom in der Bundesliga wandern einige "Fußball-Romantiker" in die Amateurligen ab - wie aktuell einige Briten Richtung Festland.

Niemand hatte Lust auf ein verregnetes 0:0

Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört auch, dass es niemand spaßig fand, sich freitagabends im Dezember bei drei Grad auf einer unüberdachten Stehplatztribüne in 80 Metern Entfernung zum Spielfeld bei einem 0:0 gegen Wattenscheid vollregnen zu lassen. Früher war sicher nicht alles besser. Aber es gab mehr Unverwechselbarkeit, echte Typen, Haltung.

Wenn meine Eintracht zum Saison-Abstiegsfinale in den Relegationsspielen gegen Nürnberg tatsächlich noch absteigen sollte: Ich wäre schon einmal trauriger gewesen.

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