Fußball-Nationalmannschaft Boateng kehrt an seine alte Wirkungsstätte zurück

Berlin · Jérôme Boateng hat am Dienstag gegen Brasilien ein Heimspiel. In Wedding machte der Verteidiger einst seine ersten fußballerischen Schritte. Heute ist er ein Anführer im Nationalteam.

 Der erste Gratulant: Jerome Boateng (l.) beglückwünscht Thomas Müller zum 1:1 gegen Spanien.

Der erste Gratulant: Jerome Boateng (l.) beglückwünscht Thomas Müller zum 1:1 gegen Spanien.

Foto: dpa

Berlin, Stadtteil Wedding. Betonboden, Gitterstäbe, zwei Tore. Ein kleiner Käfig nur, aber einer, der für Jérôme Boateng zum Nährboden einer großartigen Karriere werden sollte. Dort, an der „Panke“, wie die Kinder ihre fußballerische Heimat nannten, war ihr Zuhause. An endlosen Nachmittagen war der Fußball Sehnsucht und Zuflucht für sie, in diesem Arbeiterkiez der Hauptstadt. Für den kleinen Jérôme war es ein Auswärtsspiel, das er da zu bestreiten hatte. Beinahe täglich zog es ihn in den 1990ern aus Wilmersdorf, gutbürgerlich, wohlhabend, konservativ, in den Bezirk Mitte.

Er und seine Freunde schlüpften dann in die Rolle ihrer Idole, hießen Kahn, Zidane, Rivaldo oder Ronaldo. Und es ging nicht gerade zimperlich zu. „Klar“, sagte Boateng einmal, „klar haben wir gegrätscht.“ Es gab offene Knie, und er habe „des öfteren geweint, aber wir waren ja jung. Das war unser Spiel.“ Geprägt schon damals von harten Duellen.

Auch ein brüderlicher Zweikampf war darunter – auf engstem Raum. Dort, an der „Panke“, hatte Jérômes Halbbruder Kevin Prince sein Heimspiel. Sie waren getrennt voneinander aufgewachsen, fanden aber beide Gefallen am Käfigkampf und langsam zueinander. Der Jüngere, Jérôme, wollte es allen zeigen, beweisen, dass er sich im rauen Wedding behaupten und mithalten kann. Das gelang ihm. Als Profi, Nationalspieler und Weltmeister kehrte der Junge vom Kiez nun zurück in seine Stadt, in der er sich noch immer heimisch fühlt.

„Ich habe immer noch Lust auf Berlin“, sagte er der „FAZ“ vor dem Länderspiel an diesem Dienstag gegen Brasilien (20.45 Uhr/ZDF). „Hier bin ich aufgewachsen und zu dem Menschen geworden, der ich bin.“ Um zu dem Spieler zu werden, der er jetzt ist, hat er nicht wenige Jahre benötigt. Aus einem Hallodri im Sorglos-Modus zu Beginn seiner Karriere hat sich ein Profi mit scharfem Profil entwickelt, der im Zirkel der Nationalmannschaft zu den Wortführern gehört. Zwar haben seine Sätze von ihrer Nuschelhaftigkeit nicht viel eingebüßt. Doch deren Inhalt lässt keinen Raum für Zweifel. Der Innenverteidiger des FC Bayern, der mit Mats Hummels eines der weltweit besten Abwehrgespanne bildet, bezieht Stellung und bringt sich in Stellung. Klar wirkt er in seine Aussagen, bestimmend. Sein inoffizielles Amt als Anführer füllt er nicht nur auf dem Platz aus. Er selbst, das betont er häufig, fühlt sich in dieser Rolle auch daneben nur allzu gut aufgehoben.

Schon bei der EM in Frankreich vor zwei Jahren hat er vor Kritik an seinen Kollegen nicht zurückgeschreckt – und bezog sich selbst ein. Und er war auch der einzige, der nach dem jüngsten Spiel gegen Spanien deutlich wurde. Als sich alle ob der spektakulären Partie im Sonnenschein aalten, grätschte er mit Verve dazwischen. Das Pressing der Kollegen in der ersten halben Stunde hatte ihm überhaupt nicht zugesagt. Man dürfe nicht, sagte er dann, „drei, vier Mal offen gegen die Spanier in Konter laufen“. Gestern dann in Berlin wolte er sich nicht als Spielverderber abstempeln lassen. „Wir wollen im Sommer erfolgreich sein, da müssen wir solche Dinge ganz klar ansprechen“, sagte er. „Das ist besser, als sie verstreichen zu lassen, und dann gucken wir uns alle blöd an, wenn es drauf ankommt.“

Wenn er das sagt, seine langen Beine auf dem Podium des Pressekonferenzraumes unter den Tisch gestreckt, wirkt das leicht abwesend. So als wäre er lieber in einem dieser vibrierenden Clubs der Hauptstadt, in der sie seine bevorzugten Hip-Hop-Klänge spielen. Da saß er also mit treuherzigem Blick, die Rundbrille mit goldenem Rand auf der Nase, und die Stecker in beiden Ohren funkelten um die Wette. Ein Wässerchen, so hatte es den Anschein, könnte dieser muskelbepackte Riese nicht trüben. Eine Schnodderschnauze ist ihm ohnehin nicht gegeben. Seinen Tadel trägt er mit leisem Nachdruck vor.

Bundestrainer Joachim Löw findet es, das sagte er am Montag in Berlin, „absolut in Ordnung, wenn Spieler ihre Gefühle aus dem Spiel auch äußern“. Er schätzt diese Deutlichkeit. Nicht umsonst ist für ihn klar, dass Boateng gegen Brasilien die Kapitänsbinde tragen wird, sollte Sami Khedira (muskuläre Probleme) nicht spielen können. Inzwischen hat Boateng seine alte Schaffenskraft wieder vollständig hergestellt nach vielen, vielen Verletzungen. Wahrscheinlich hatte man den 29-Jährigen daher nicht mehr so deutlich wahrgenommen wie im Moment. Mehr als 300 Tage verbrachte der ewige Patient nach dem EM-Aus im Halbfinale 2016 im Krankenstand. In der Nationalmannschaft kam er kaum zum Zuge. Jetzt hat er sich zurückgemeldet, mit einer Physis, die seinen gehobenen Ansprüchen wieder genügt.

Aus Berlin, Stadtteil Wedding, war er nie ganz weg. Dort prangt das kantige Konterfei des bei der Hertha fußballerisch sozialisierten Abwehr-Asses noch immer als riesiges Graffito von einer Hauswand. Darüber steht: Gewachsen auf Beton. Und gewachsen, das steht fest, ist der 1,92-Mann kräftig. Vor allem als Fußballer und Mensch.

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