Vor dem EM-Halbfinale Big Boss Boateng

Évian-les-Bains · Früher zuweilen etwas plump, könnte der Abwehrchef Jérôme Boateng im EM-Halbfinale gegen Gastgeber Frankreich am Donnerstag zum wichtigsten Mann werden.

 Jérôme Boateng im Training.

Jérôme Boateng im Training.

Foto: Arne Dedert

Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, eine falsche Entscheidung, die Jérôme Boateng zurück in die Vergangenheit katapultierte. Im EM-Viertelfinale gegen Italien schuf er ein Bild für die Ewigkeit.

Bei einer Flanke in den deutschen Strafraum hob der Hüne kraftvoll ab und streckte dabei die Arme in die Luft. Das sah alleine schon deshalb lustig aus, da Boateng nun noch viel hünenhafter wirkte als der gewiss nicht zarte Giorgio Chiellini, der sich vor ihm duckte. Boateng kam über ihn wie eine Schneelawine.

Weniger lustig war allerdings, was dann passierte. Der deutsche Abwehrchef bekam den Ball gegen den ausgestreckten Arm – die Italiener nutzten den fälligen Elfmeter zum 1:1.

Und man fragte sich: Was sollte das eben von Boateng? Seine skurrile Darbietung führte dazu, in ihm wieder den zu sehen, als der er einmal galt: ein tapsiger Superschwergewichtler. Dieses Image hatte der Berliner, Halbbruder des Ghanaers Kevin-Prince Boateng, doch längst abgelegt – und es wird ihn auch künftig nicht mehr begleiten.

Denn der Vater von Zwillingen kann eine ganze Palette großartiger Erfolge vorweisen: Er hat eine Champions League, vier deutsche Meisterschaften und drei DFB-Pokale gewonnen. Und: Vor zwei Jahren wurde er Weltmeister – das schafft niemand, der nur so durch die Welt torkelt.

Früher allerdings, so der Eindruck, konnte er nicht so recht etwas anfangen mit seiner Kraft und Athletik, Wucht und imposanten Schnelligkeit. Es schien, als mache er immer das Falsche im richtigen Augenblick. Mal grätschte er, wenn er den Gegner hätte ablaufen müssen; mal rannte er, wenn er hätte grätschen müssen.

Fehlende Orientierung

Es fehlte an Orientierung. Nun liegt es noch gar nicht so lange zurück, dass Boateng wieder in die Zeitmaschine stieg. Er landete 2015. Damals ging der Innenverteidiger des FC Bayern im Champions-League-Duell mit Barcelonas Lionel Messi derart ungeschickt zu Boden, dass im Netz Hohn und Spott über ihn ausgegossen wurden.

Es ist selten, dass Boateng solche Momente einholen. Die alte Malaise ist längst behoben. Inzwischen gilt er als Führungsspieler – beim FC Bayern und der Nationalmannschaft. Dort hat sein Wort Gewicht, selbst wenn seine Stimme ruhig, ja fast demütig klingt. Joachim Löw zählt den Abwehrchef zu den Wortführern im Team, gehört er doch auch dem Spielerrat an.

Und die Löwschen Leitlinien für sein leitendes Personal beinhalten eben auch, den Mund aufzumachen. Das, so scheint es, hatte Boateng zumindest so verstanden. Er habe ihn vor dem Turnier noch einmal aufgefordert, mehr zu sprechen, sagte der Bundestrainer kürzlich, sich „zu exponieren in seiner Position als Innenverteidiger, wo er das ganze Spiel vor sich hat“.

Die Anweisung des Chefs landete nicht im luftleeren Raum. Nach dem 0:0 gegen Polen in der Vorrunde hatte der 27-Jährige deutliche Kritik an der eigenen Offensive geübt. Löw gefiel das. Boateng habe ausgesprochen, was auch „klar zu sehen war. Die Kritik war vollkommen realistisch und zutreffend. Warum soll sich da jemand angegriffen fühlen?“ Der Bundestrainer sieht in Boateng einen der Bosse im DFB-Team.

„Jérôme ist ein Weltklassespieler, er ist in der Mannschaft sehr respektiert“, sagte Löw.

Big Boss Boateng

Im Halbfinale am Donnerstag gegen Frankreich (21 Uhr/ZDF) gibt Boateng sogar den Big Boss. Denn sein Partner in der Innenverteidigung, Mats Hummels, verpasst das Spiel wegen einer Gelbsperre.

Von großer Bedeutung ist deshalb, dass Boateng gegen den Gastgeber trotz seiner Wadenprobleme mit von der Partie ist. Nicht nur, dass seine Form derzeit – wie bei der WM 20014 – beachtlich ist.

In der Hierarchie des Teams ist er weit oben angesiedelt. Gerade für die jungen Mitspieler an seiner Seite wie Joshua Kimmich oder auch Jonas Hector kann er eine wertvolle Hilfe sein.

Auch wenn er hin und wieder laut wird und, gepaart mit seiner imposanten Statur, schon mal furchteinflößend wirken kann. „Ich reg' mich auf“, sagte Boateng jüngst. „Wenn der Gegner Chancen hat, dann habe ich das Recht, als Führungsspieler etwas zu sagen.“

Früher flossen bei Rückschlägen eher die Tränen

Die Zeiten haben sich geändert. Früher flossen bei Rückschlägen eher die Tränen, wie seine jüngere Schwester unlängst berichtete. Er sei ein schlechter Verlierer gewesen. Wenn der Fußballprofi damals gegen seine Geschwister bei „Mensch ärgere dich nicht“ verlor, habe es oft Tränen gegeben.

„Es gab kein Mal, bei dem nicht die Figuren durch die Gegend geflogen sind oder jemand geweint hat“, sagte Avelina Boateng der „Bild am Sonntag“. Heute sei Jérôme Boateng, der längst als einer der besten Verteidiger der Welt gilt und von US-Rapper Jay-Z gemanagt wird, jedoch gelassener geworden.

Auch im Umgang mit Rückschlägen – wie der Balletteinlage gegen Italien. Eine knappe Stunde später traf er gegen Italien im Elfmeterschießen. Er übernahm Verantwortung – und hielt stand. Auch wenn er später einräumte: „Der Weg zum Elfmeterpunkt war lang.“ So wie jener zu einer anerkannten Größe seines Fachs.

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