"Was Sudau, du lebst noch?"

WACHTBERG · Vor 69 Jahren kapitulierte die 6. Armee in Stalingrad: Eine Ju 52 hatte Helmut Sudau aus Gimmersdorf zuvor aus dem Kessel geflogen.

 Erinnerungen an ein bewegtes Leben: Helmut Sudau erzählt von seinem Einsatz an der Ostfront.

Erinnerungen an ein bewegtes Leben: Helmut Sudau erzählt von seinem Einsatz an der Ostfront.

Foto: Axel Vogel

Es ist so groß wie eine Zigarettenschachtel, das Buch, an dem Helmut Sudau hängt. Der grüne Leinenband wirkt brüchig, und in der Tat hat die Taschenbibel einen langen Weg hinter sich: Das Buch war dem 88 Jahre alten Gimmersdorfer ein stiller Trostspender in düsteren Zeiten.

Rund 2000 Kilometer entfernt von seiner ostpreußischen Heimat musste Sudau im Herbst 1942 um sein Leben kämpfen: in Stalingrad. Vor 69 Jahren, am 2. Februar 1943, kapitulierten die Überlebenden der 6. Armee. Helmut Sudau war nicht dabei, ein Flugzeug hatte den Schwerverletzen kurz zuvor ausgeflogen.

Respekt ist schon angesagt, wenn man sich mit dem 88-Jährigen unterhält. Der rüstige Senior weiß noch viele Details seines bewegten Lebens. Das geriet im März 1942 aus den Fugen, als der Sohn eines Landwirtes aus dem Kreis Tilsit-Ragnit eingezogen wurde. Ehe er sich versah, fand er sich als MG-Schütze auf dem Weg Richtung Ostfront. In den Reihen der 168. Schlesischen Infanteriedivision sollte er das Pech haben, mit in die schwersten Schlachten des Krieges zu geraten.

Im September 1942 kommt der schicksalhafte Befehl: Sudau und seine Kameraden mussten sich in Lastern auf den Weg nach Kalatsch am Don machen. Rund 80 Kilometer entfernt kämpfte bereits die 6. Armee in Stalingrad an der Wolga. Allein 150.000 deutsche Soldaten starben beim Kampf um Fabrikruinen oder Lössschluchten.

Bevor Sudaus Einheit in den Einsatz zog, bat der Feldpfarrer zum Gottesdienst: "Es kamen nicht viele", erinnert sich der Gimmersdorfer. Dort bekam er jene Bibel, die er immer noch in Ehren hält: "Da hab ich oft reingeschaut, in den vielen Schützenlöchern." Ausgerechnet bei Kalatsch schloss die Rote Armee im November 1942 den Kessel um die 6. Armee. Auch Helmut Sudau saß in der Falle.

An der Böschung einer Straße, die von Woronesch nach Stalingrad führte, griff der Tod am 14. Dezember 1942 nach ihm. In einer Gruppe verbündeter ungarischer Soldaten explodiert eine Panzergranate. Dann noch ein Schuss. Im Schnee liegend, wachte er blutüberströmt auf. Splitter hatten seinen rechten Unterkiefer aufgerissen. Allein machte er sich bei minus 28 Grad zu Fuß in Richtung eines Verbandsplatzes auf. Mit letzter Kraft erreichte Sudau ein Dorf, wo er neben einem Stabsarzt auch zwei ungläubige Kameraden traf: "Was Sudau, du lebst noch?", empfingen sie ihn.

Sein Lebensretter wurde eine "rote Karte" für transportfähige Verwundete. Auf einem Laster ging es am 16. Dezember 1942 nach Pitomink, einem Flugplatz im Kessel: "Der war gesichert von Infanteristen, welche die Flugzeuge vor den eigenen Soldaten schützen mussten", so Sudau. Er bekam einen der hart umkämpften Plätze. Wenig später hob die Transportmaschine Ju 52 nach Charkow ab. Von der Kapitulation der 6. Armee am 2. Februar 1943 erfuhr er aus dem Radio in einem Lazarett in Leipzig: "Ich war damals einfach nur froh, dieser Hölle entronnen zu sein", sagt er mit leiser Stimme.

Auch während der folgenden Kriegsjahre hatte Sudau den Beistand seiner Taschenbibel noch bitter nötig. Er überlebte blutige Schlachten in der Ukraine und Weißrussland, schaffte den Weg von der Wolga an die Glatzer Neiße. Dort war der Krieg am 8. Mai 1945 für ihn zu Ende. Allerdings lässt ihn das Geschehene bis heute nicht los. Obwohl der Vertriebene als selbstständiger Off-Set-Drucker längst in Gimmersdorf eine neue Heimat gefunden hat. Es steckt immer noch ein Stück Splitter jener Granate in seinem Unterkiefer, dem er im gewissen Sinne auch sein Überleben verdankt.

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