Anwalt im Interview Jurist spricht über die Flüchtlingssituation in Wachtberg

Wachtberg · Für den Bonner bündeln sich die Probleme in Wachtberg bei der Flüchtlingsbetreuung wie unter einem Brennglas. Auch das Migrationspaket des Bundes sieht er kritisch.

 Jens Dieckmann ist Fachmann für Asyl- und Ausländerrecht. Er hat in Tübingen und Bonn Jura studiert.

Jens Dieckmann ist Fachmann für Asyl- und Ausländerrecht. Er hat in Tübingen und Bonn Jura studiert.

Foto: Axel Vogel

Wachtberger Verwaltung und ehrenamtliche Helfer sehen die Flüchtlingsbetreuung in einer schwierigen Phase. Warum diese teils als „festgefahren“ empfundene Entwicklung für den Bonner Rechtsanwalt Jens Dieckmann nicht überraschend kommt, wollte Axel Vogel von ihm wissen.

Jens Dieckmann: Das hat insbesondere auch mit dem 2019 beschlossenen Migrationspaket zu tun. Dieses räumt der Identitätsklärung einen hohen Stellenwert ein und hat den deutschen Behörden zwei Jahre mehr Zeit gegeben, um positive Asylentscheidungen noch einmal zu überprüfen. Die Behörden und der Gesetzgeber gingen davon aus, dass in den Jahren 2015/16 deutlich über 50 Prozent der damaligen Asylantragsteller keine oder gefälschte Papiere besaßen. Hier rächt es sich, dass es bis heute keine legalen humanitären Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge gibt.

Die vom BAMF angestrengten Widerrufsverfahren betreffen vor allem syrische Staatsangehörige?

Dieckmann: Ja. Bei der Flüchtlingskrise 2015/16 langte in der Regel der Hinweis Syrer zu sein und das Ausfüllen eines Fragebogens. Eine Anhörung findet erst jetzt statt. Eingeladen wurden daher in erster Linie Syrer, die bei ihrer Einreise keinen Identitätsnachweis vorlegen konnten. Aber auch Afghanen, Eritreer und Somalis, die als Minderjährige eingereist waren. Rund 800 000 Akten werden jetzt insgesamt überprüft.

Ist denn die Überprüfung angesichts vieler Einreisen ohne Ausweispapiere nicht sinnvoll?

Dieckmann: Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke hat in einer Anfrage an die Regierung erste Ergebnisse abgefragt: Aufhebungen des asylrechtlichen Schutzstatus  haben sich 2018 in lediglich unter zwei Prozent der Fälle ergeben, 2019 waren es unter drei Prozent. Was aus meiner Sicht bei diesen Überprüfungen besonders schwer wiegt ist, dass für die Dauer der Verfahren, die unter Umständen Jahre dauern können, die Aufenthaltserlaubnisse von vielen Ausländerbehörden nicht verlängert werden, obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Betroffene bekommt stattdessen eine grüne Karte, die er alle drei Monate erneuern muss. Einen potentiellen Arbeitgeber oder Vermieter schreckt das oft ab.

In Wachtberg muss eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen betreut werden, die aus den unterschiedlichen Rechtsgründen keine Bleibeperspektive hat.

Dieckmann: Wie bei den Widerrufsverfahren bündeln sich auch in diesem Punkt die bundesweiten Probleme, die durch das Migrationspaket und eine veränderte Asyl- und Aufenthaltsgesetzgebung geschaffen wurden, in Wachtberg wie unter einem Brennglas. Es ist quasi ein Produkt des Paketes, dass in Städten und Gemeinden immer mehr Menschen mit einem prekären Aufenthaltsstatus leben werden, ohne Aussicht auf Veränderung des Status quo. Dreh- und Angelpunkt ist erneut der § 60b Aufenthaltsgesetz, der jene Menschen stärker als bislang sanktioniert, die nach Ansicht der Behörden nicht effektiv an einer Identitätsfeststellung mitarbeiten oder denen die Klärung nicht innerhalb enger gesetzlicher Fristen gelingt. Ausländerbehörden können sich jetzt ermutigt fühlen, strenger zu sein und im Zweifel lieber Sanktionen zu verhängen, als auf weitere Integration der Geduldeten zu setzen. Dass solche geduldeten Personen de facto trotzdem bleiben dürfen, ist eben der Preis, den wir zahlen müssen, weil es keine legalen Zuwanderungswege gibt.

Was sind die Folgen einer solchen Duldung?

Dieckmann: Nach § 60b Aufenthaltsgesetz werden diese Personen zwar geduldet, aber nun massiv sanktioniert. Für diese Gruppe wird die Tür zu einem zukünftigen Bleiberecht faktisch geschlossen. Sie dürfen mit dieser Duldung nicht arbeiten und ihre Aufenthaltszeiten werden auch nicht angerechnet für ein mögliches humanitäres Bleiberecht.

Als Belastung empfindet man in der Gemeinde jene geduldeten Flüchtlinge, die unter das Dublin-III-Abkommen fallen. Sie müssten in das EU-Land abgeschoben werden, in dem sie zuerst als Asylsuchende registriert waren. Warum ist die Umsetzung schwierig?

Dieckmann: In diesem Fall hat der  Bund beziehungsweise das BAMF den Hut auf bei Abschiebungen und  nicht das Ausländeramt. Obwohl tausende Dublin-III Flüchtlinge abgeschoben werden könnten, schafft es das BAMF aus den unterschiedlichsten Gründen nicht, die Abschiebungen zu vollziehen. Die Rechtsfolgen sind gravierend: Wenn das nach sechs Monaten immer noch nicht gelingt, beginnt in der Regel ein  Asylverfahren des Betroffenen in Deutschland. In der Zwischenzeit liegen über Monate alle Integrationsanstrengungen auf Eis, da diese Menschen von nahezu allen Fördermöglichkeiten ausgeschlossen sind.

Was hindert das Bundesamt konkret an Abschiebungen?

Dieckmann: Neben personellen Engpässen sind es vor allem rechtliche Gründe. Das Oberverwaltungsgericht NRW hat etwa alle Abschiebungen nach Ungarn mit Hinweis auf die schlechte Versorgung der Flüchtlinge und systemische Mängel im dortigen Asylverfahren untersagt. Aktuell seit der vergangenen Woche nimmt Italien wegen des Coronavirus keine Flüchtlinge mehr zurück.

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