Glasstadt Rheinbach "Glas verzeiht keine Fehler"

RHEINBACH · Die nach dem Krieg aus Böhmen vertriebenen Kunsthandwerker veränderten das Gesicht Rheinbachs.

 Gläserne Ansichten einer Stadt: Der Glaspavillon neben dem Berufskolleg,...

Gläserne Ansichten einer Stadt: Der Glaspavillon neben dem Berufskolleg,...

Foto: Volker Lannert

Die Beschreibung der chemischen Prozesse bei der Herstellung des physikalischen Zustandes von Glas mag vielleicht keine Hexerei sein; das Verarbeiten und Veredeln dieses einzigartigen und eigenwilligen Werkstoffes hingegen ist eine große Kunst. Eine Kunst, die nach dem Zweiten Weltkrieg sudetendeutsche Vertriebene aus Böhmen nach Rheinbach brachten.

Man nehme Sand, Soda, Pottasche und Kalk, dazu diverse Metalloxide zur Färbung oder Entfärbung, erhitze das Ganze, bringe die Mischung bei 1460 Grad Celsius zum Schmelzen und lasse sie wieder erkalten. Klingt einfach, ist es aber nicht. Die Beschreibung der chemischen Prozesse bei der Herstellung des physikalischen Zustandes von Glas mag vielleicht keine Hexerei sein; das Verarbeiten und Veredeln dieses einzigartigen und eigenwilligen Werkstoffes hingegen ist eine große Kunst.

Eine Kunst, die nach dem Zweiten Weltkrieg sudetendeutsche Vertriebene aus Böhmen nach Rheinbach brachten. Die Glasbläser, Glasschleifer, Glasgraveure, Glasschneider und Glasmaler kamen mit ihren Familien aus Steinschönau, der heutigen Partnerstadt Rheinbachs in der Tschechischen Republik, deren Nachbarort Haida das Zentrum des sudetendeutschen Glashandwerks war.

Die Sudetendeutschen kamen noch vor der Gründung der Bundesrepublik nach Rheinbach, als die erste Düsseldorfer Landesregierung Flüchtlingen eine neue Heimat verschaffen wollte und der Ansicht war, die Stadt Rheinbach mit ihrer Keramik-Historie sei vielleicht der geeignete Platz für die Menschen aus Steinschönau.

Einer der Pioniere war Erich Hikisch, der unter Lebensgefahr noch einige Male heimlich über die grüne Grenze zurück in die alte Heimat ging, um das notgedrungen bei der Flucht zurückgelassene Spezialwerkzeug zu holen, das man in der neuen Heimat so dringend benötigte.

"Die Sudetendeutschen waren ein ausgesprochener Glücksfall für die Stadt", versichert Ruth Fabritius, die Leiterin des Rheinbacher Glasmuseums. "Rheinbach war bis dahin doch eher ländlich geprägt. Von den Vertriebenen aus Steinschönau hatten viele in Wien oder Prag studiert. Sie brachten eine gewisse Weltläufigkeit und den Sinn für Ästhetik mit in die ländliche Kleinstadt im Westen.

Hier entstand ein Hort der Kreativität. Ich gehe so weit zu sagen: Ohne die lange, erfolgreiche Geschichte der Glasfachschule, die wir ebenfalls den Sudetendeutschen zu verdanken haben, hätte Rheinbach nach dem Regierungsumzug von Bonn nach Berlin nicht die Fachhochschule bekommen."

Ein zweiter Glücksfall war damals die Wahl Bonns zur Hauptstadt der neuen Republik. Das bescherte den Kunsthandwerkern im nahen Rheinbach eine internationale, zahlungskräftige Kundschaft und machte die Kleinstadt zum festen Bestandteil des Damenprogramms bei Staatsbesuchen. Ganze Festtafeln für internationale Staatsoberhäupter in Schloss Augustusburg und Schloss Gymnich wurden aus Rheinbacher Glaswerkstätten bestückt.

Inzwischen haben die Werkstätten der Kunsthandwerker den Ateliers der Künstler Platz gemacht. "Es gibt da eine Diskrepanz in der Wahrnehmung, was die Innensicht und die Außensicht betrifft", stellt Museumsleiterin Ruth Fabritius fest. "Für viele Rheinbacher Bürger ist die Bedeutung des Glases für die Stadt nicht mehr so spürbar, seit den Deutschen durch Ikea und die Schnäppchen-Mentalität das Interesse an Tischkultur und edlen Trinkgefäßen abhanden gekommen ist.

Stattdessen schaut die internationale Kunstszene auf Rheinbach als Metropole der Glaskunst." Zum Beispiel auf die Wormersdorfer Glasmalermeisterin Helga Feuser-Strasdas, die im Galeria-Gebäude der Messe Essen nach Entwürfen des 2007 verstorbenen Malerfürsten Professor Jörg Immendorff ein Fenster realisierte - das mit 240 Quadratmetern größte Glaskunstwerk Europas. Oder den international bekannten Glasbildhauer Udo Edelmann, der im Maschinenhaus des historischen Wasserwerks am Rheinbacher Stadtpark lebt und arbeitet.

Edelmann stellt seinen Werkstoff selbst her und hat auch seinen Glasofen selbst gebaut. Wie das geht, weiß der 74-Jährige aus seinem früheren Leben: Nach der Ausbildung an der Rheinbacher Glasfachschule (dort war er später Lehrbeauftragter) studierte er an der Bonner Universität Silikat-Chemie, ging nach Schweden, baute in aller Welt, von China bis Guatemala, industrielle Glashütten auf und war Direktor einer Hütte mit 700 Beschäftigten in Ichendorf bei Köln, als er sich Anfang der 1980er Jahre entschloss, zurück nach Rheinbach zu gehen und sich dort als freischaffender Künstler niederzulassen.

Seine Arbeiten stehen heute in Museen und Sammlungen rund um den Erdball. Sogar aus Japan kamen junge Künstler, um von ihm zu lernen. Was fasziniert ihn am Werkstoff Glas? "Die Faszination entstand schon während meiner Kindheit in dem Dorf Trappenkamp in Schleswig-Holstein", erzählt Edelmann. "Dort lebten wie in Rheinbach vertriebene sudetendeutsche Glashandwerker, und ich habe ihnen mit Begeisterung bei der Arbeit zugeschaut."

Ferner faszinieren den Bildhauer die erforderliche Perfektion und Präzision: "Das beginnt schon bei der Rezeptur, die im Mittelalter mündlich vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde. Ich nehme nur Quarzsand von der niederländischen Nordseeküste. Wenn Sie beim Abkühlungsvorgang nicht aufpassen, kristallisiert das Glas. Bei 1200 Grad bleiben nur drei bis vier Minuten Zeit, dem Material die gewünschte Form zu geben. Sie können nichts nachbessern. Glas verzeiht keine Fehler."

Informationen zum Glasmuseum und zur Glasfachschule, die heute "Staatliches Berufskolleg Glas Keramik Gestaltung des Landes NRW" heißt und ihr Angebotsspektrum erweitert hat, gibt es im Internet: www.glasmuseum-rheinbach.de und www.bkrheinbach.de

Die gläserne Gesellschaft

Könnte unsere Gesellschaft ohne Glas funktionieren? Ein Leben ohne Fenster, Brillen, Spiegel, Gewächshäuser, Mikroskope, Teleskope, Reagenzgläser oder Kameralinsen ist jedenfalls kaum vorstellbar.

Vermutlich wurde Glas erstmals in Mesopotamien hergestellt und die Technik nach Ägypten exportiert. Das älteste sicher datierte Glasgefäß ist ein Kelch, der den Namen des ägyptischen Pharaos Thutmosis III. trägt und um 1450 v. Chr. entstand. Er steht heute im Museum Ägyptischer Kunst in München.

Die erste bekannte Rezeptur ist aus der Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal überliefert und auf 650 v. Chr. datiert: "Nimm 60 Teile Sand, 180 Teile Asche aus Meerespflanzen und fünf Teile Kreide, und du erhältst Glas." Schon die Römer stellten Fensterglas her und statteten damit Villen und Thermen aus, wie man aus Pompeji weiß.

Glasklar, transparent, im sich brechenden Licht funkelnd: "Für Künstler ist das Material Glas eine ganz besondere Herausforderung, weil es so schön ist und ihm die Ästhetik des Unvollkommenen und Hässlichen fehlt", sagt Ruth Fabritius, Leiterin des Rheinbacher Glasmuseums. "Dafür aber lässt sich mit diesem filigranen, leicht zerbrechlichen Werkstoff zum Beispiel Verletzlichkeit ausdrücken, und das passt wieder gut in unsere Zeit."

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