Weihnachten im Krieg Ein düsterer Heiligabend in der Schneewüste

Rheinbach · Heinz Löhrer aus Rheinbach wacht über ein Familienarchiv, das man getrost als außergewöhnlich bezeichnen darf. Jetzt rekonstruierte er die Kriegsweihnacht des Vaters vor 75 Jahren bei Leningrad.

 Heinz Löhrers (Foto) Vater Johannes verbrachte den Winter 1942/43 an der Ostfront vor Leningrad. Im Familienarchiv finden sich Fotos vom Vater in Uniform.

Heinz Löhrers (Foto) Vater Johannes verbrachte den Winter 1942/43 an der Ostfront vor Leningrad. Im Familienarchiv finden sich Fotos vom Vater in Uniform.

Foto: Axel Vogel

Weihnachten geriet in diesem Jahr für Heinz Löhrer zu einem nachdenklichen Fest. Der 70-Jährige alt eingesessene Rheinbacher hatte erneut in dem höchst umfangreichen Archiv seiner Familie (siehe Infokasten) gestöbert, das er mit Hingabe aufzuarbeiten versucht. Dabei geriet er auf eine bewegende Zeitreise zurück in die jungen Jahre des Vaters: Johannes („Hans“) Löhrer musste vor genau 75 Jahren sein wohl dunkelstes und freudlosestes Weihnachten erleben.

Am 24. Dezember 1942 hockte er rund 2.000 Kilometer von der Heimat entfernt als Wehrmachtssoldat in einer Geschützstellung an der Newa im Norden Russlands. Dort gehörte der Artillerist zum deutschen Blockadering rund um Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, mit dem Hitlers Armeen rund drei Jahre lang versucht hatten, die sowjetische Metropole schlicht „auszuhungern“ (siehe Kasten).

Statt wohliger Wohnzimmeratmosphäre an einem geschmückten Weihnachtsbaum hatte der NS-Vernichtungskrieg Löhrers Vater damals in eine lebensfeindliche Schneewüste mit Temperaturen von bis zu minus 50 Grad geführt: „Offene Schützengräben, dunkle Erdbunker und Finnenzelte waren der einzige Schutz“, weiß Sohn Heinz zu berichten. Statt einem friedvollen Miteinander warteten in der russischen Einöde „kaum mehr vorstellbare Entbehrungen auf die Soldaten“, so schließt der Sohn aus Feldpostbriefen und Tagebucheintragungen.

Tod als ständiger Begleiter

Vor allem war der Tod ihr ständiger Wegbegleiter. Er kam in Gestalt eines Granatsplitters, einer Kugel von Scharfschützen „oder schreiender Rotarmisten, die zu Hunderten wieder und wieder in Sturmangriffen die deutschen Stellungen zu durchbrechen versuchten“, so Heinz Löhrer. Diese düstere Szenerie machen Dutzende Schwarz-Weiß-Fotos vom Frontalltag, die Löhrer an Weihnachten gesichtet hat, wieder ein Stück weit begreifbar.

Söhne und Töchter überkommt bekanntlich in fortgeschrittenen Jahren der Drang, mehr über das Leben ihrer Eltern zu erfahren, vor allem was die Kriegszeiten angeht. Auch interessiert, was für Menschen die Großeltern waren und wie weit zurück überhaupt die Familienwurzeln reichen. In vielen Fällen kommt das Interesse allerdings zu spät, denn die Eltern leben nicht mehr, um sie zu befragen, und auch schriftliche und fotografische Zeugnisse finden sich nur noch spärlich.

Davon kann im Fall der Familie Löhrer indes nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Heinz Löhrer wacht über ein Familienarchiv, das man getrost als außergewöhnlich bezeichnen darf: Bis zu den berüchtigten Hexenverbrennungen in Rheinbach 1647 lässt sich die Familiengeschichte belegen. Hunderte Kartons lagern im Haus des Konditormeisters, in seiner ehemaligen Konditorei und dem Café am Ölmühlenweg, das über Jahrzehnte eine bekannte Adresse in Rheinbach war.

In Rheinbach heimisch geworden

Natürlich holt Heinz Löhrer beim Sichten der Kartons die eigene Familiengeschichte wieder ein. Gerade während der Weihnachtstage bewegten ihn die Erlebnisse des Vaters Ende 1942 vor Leningrad. Diese sind dank Fotos sowie akribisch geführter Tagebücher und Hunderter Feldpostbriefe bestens belegt. Hans Löhrer, Jahrgang 1913, stammte aus Erftstadt-Lechenich, arbeitete aber seit 1932 in Rheinbach als Bäckergeselle im Café Breuer am Voigtstor. In Rheinbach lernte er auch seine Frau Franziska Krautwig kennen, Tochter eines angesehenen Rheinbacher Baustoffhändlers, sodass die Glasstadt seine Heimat wurde.

Zu Weihnachten 1942 notierte er ins Tagebuch: „Die letzte Dezemberwoche vor Weihnachten war reichlich mit Aufgaben gefüllt: mehrtägiger Lehrgang 'Lichtmesskursus zur Feinjustierung und Anweisung an die Geschütze'. Marsch dorthin und zurück ebenfalls aufwendig. In Poselok gab es eine Entlausung, dann ging es zur Beobachtung an den Ladogasee und nach Rückkehr tags darauf 'endlich' in den Bunker. Dort gab es am 24.12. eine Weihnachtsfeier, Päckchen der Feldpost kamen am 25.12. dort an.“

Außerhalb des Bunkers war freilich der Weihnachtsgedanke von Friede und Versöhnung weit weg. Fotos von Löhrer, etwa das von einem gefallenen Rotarmisten im Schnee vor den deutschen Stellungen, belegen: Krieg macht keine Auszeit. Auch auf vielen Aufnahmen von deutschen Kameraden, die in die Kamera lachten, finden sich Anmerkungen wie „gefallen“ oder „vermisst“.

Wie wirkten die alltäglichen Kriegsgräuel auf den Vater? „Mein Vater war ein sehr unpolitischer Mensch und hoffte immer, dass möglichst schnell alles vorbei sein würde, damit er wieder nach Hause kommen und sich selbstständig machten konnte“, so erinnert sich der Sohn.

Hochzeit zum richtigen Zeitpunkt

Der staunte, dass vieles, was der Vater ihm an schier Unvorstellbarem aus dem Krieg berichtet hatte, sich auch so in seinen Aufzeichnungen wiederfand: „So hatte er mir geschildert, dass die Rote Armee zur Versorgung Leningrads im Winter eine Eisenbahntrasse über den zugefrorenen Ladogasee gebaut hatte. Das konnte ich jetzt auch in seinen Aufzeichnungen nachlesen“, erklärt Heinz Löhrer.

Dass der Vater während der Blockade mit dem Leben davonkam, mag einem glücklichen Umstand geschuldet zu sein. „Nach einem genau abgestimmten Fahrplan hatte mein Vater damals seine Hochzeit mit meiner Mutter in Rheinbach organisiert“, erzählt der Sohn. Dazu trat er am 9. Januar 1943 die beschwerliche Heimreise von der Front in der Schneehölle vor Leningrad Richtung Rheinbach an. Nur drei Tage später, am 12. Januar 1943 begann die Rote Armee eine Großoffensive zur Sprengung des Blockaderings. Es gelang den Belagerten nach erbitterten Kämpfen gegen die deutschen Truppen einen schmalen Landzugang herzustellen. Diesen Erfolg mussten zehntausende Soldaten auf beiden Seiten mit dem Leben bezahlen.

Weit entfernt von diesem Kriegsgeschehen konnte Hans Löhrer ein paar Tage lang im Glück schwelgen: In Rheinbach heiratete er seine Franziska zunächst am 15. standesamtlich und am 16. Januar 1943 kirchlich. Dann ging es zurück an die Front nach Leningrad, aber Löhrer sollte überleben – und 1945 nach Rheinbach zurückkehren und seinen Traum verwirklichen. Er machte sich selbstständig: 1961 eröffnete er das Café am Ölmühlenweg, das der Sohn zehn Jahre später übernehmen sollte.

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