Flucht im Zweiten Weltkrieg Von Breslau nach Uedorf

Bornheim · Magdalena Broemel muss im Winter 1945 aus Breslau fliehen und findet mit ihrer jungen Familie in Bornheim-Uedorf eine neue Heimat. In ihren Tagebuchbuchaufzeichnungen werden die Erlebnis noch einmal lebendig.

 Eine neue Heimat gefunden: Im Jahr 1954 beziehen die Broemels ihr neues Haus in Uedorf.

Eine neue Heimat gefunden: Im Jahr 1954 beziehen die Broemels ihr neues Haus in Uedorf.

Foto: privat

Der Krieg rückt näher

Im von Hitler entfesselten Angriffskrieg im Osten hat sich das Blatt gewendet. Die deutschen Truppen sind seit 1943 auf dem Rückzug. Ende 1944 rückt die Rote Armee in die deutschen Ostgebiete ein. Am 23. Januar 1945 bilden die Russen bei Oppeln einen Brückenkopf über die Oder. Für sie sind es jetzt nur noch 80 Kilometer bis zur schlesischen Großstadt Breslau, in der sich tausende Flüchtlinge aus dem Gebiet östlich der Stadt eingefunden haben.

Jetzt ist es nur noch eine Frage von Tagen, wann die Russen die 630.000-Einwohner-Stadt erreichen. Deshalb erklärt Gauleiter Karl Hanke Breslau zur Festung: Frauen und Kinder sowie alle nicht wehrfähigen Männer müssen die Stadt sofort verlassen. Weil die Züge die Massen an Menschen nicht aufnehmen können und im Bahnhof Panik ausbricht, machen sich ganze Flüchtlingstrecks zu Fuß auf den Weg zu Bahnhöfen im westlichen Umland.

Unter diesen Menschen ist auch die 35-jährige Magdalena Broemel. Sie wird über Umwege mit ihrer jungen Familie 1954 in Uedorf eine neue Heimat finden. Ihr Sohn Hannes Broemel, 73, lebt heute in einem Leverkusener Vorort. Er hat die 1990 von seiner im Jahre 1995 verstorbenen Mutter niedergeschriebenen Erinnerungen an die Flucht dem General-Anzeiger zur Auswertung und Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.

Arbeit im Rüstungswerk

Die Textilfachverkäuferin Magdalena Rupprecht und der Koch Claus Broemel lernen sich 1933 kennen. Im Oktober 1942 heiraten sie. Das Paar verbringt eine Woche im Riesengebirge, der Heimat des Bräutigams. Dann muss er zurück zu seiner Einheit im Norden Norwegens, sie sortiert im Rüstungswerk Rheinmetall Borsig als „Arbeitsmaid“ Schrauben. Später ist sie im Werk zuständig für die Bestellung der Lebensmittel und die Speisepläne für sieben Küchen, die 3000 Arbeiter, darunter viele Zwangsarbeiter und Juden, versorgen.

Bis Anfang der 1950er Jahre wohnte Familie Broemel in einer hölzernen Behelfsunterkunft in einem ehemaligen Arbeitslager in der ostwestfälischen Kleinstadt Verl: Vater Claus mit den Kindern Bärbel und Hannes.

Bis Anfang der 1950er Jahre wohnte Familie Broemel in einer hölzernen Behelfsunterkunft in einem ehemaligen Arbeitslager in der ostwestfälischen Kleinstadt Verl: Vater Claus mit den Kindern Bärbel und Hannes.

Foto: privat

Schnell raus aus Breslau

Um den 20. Januar muss Magdalena Broemel mit ihrem Vater Karl das Haus der Familie in Breslau räumen. Mutter Martha ist bereits bei Verwandten auf deren Bauernhof in Baitzen. Über Lautsprecher wird Magdalena Broemel im Werk aufgefordert, die Stadt zu verlassen, die Russen ständen bereits vor den Toren. „Wir sollten in aller Eile unsere Sachen packen. Die Oderbrücke solle gesprengt werden. Ich packte das Allernötigste zusammen und ging mit meinem Vater zum Bahnhof, um nach Baitzen zu fahren“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Zum Allernötigsten gehört außer etwas Wäsche eine goldene Taschenuhr, ein Erbstück des Großvater ihres Mannes. Die Uhr wird die abenteuerliche Flucht in den Westen samt einiger Überfälle überstehen. Hannes Broemel hat sie von seiner Mutter übernommen und bewahrt sie heute noch sorgfältig auf.

Zuflucht bei Verwandten

Im Freiburger Bahnhof von Breslau werden zusätzliche Züge eingesetzt, um die Menschenmassen aus der bedrohten Stadt zu bringen. Dennoch kommt es zu panikartigen Szenen. Magdalena Broemel und ihr Vater quetschen sich in einen überfüllten Zug, der sie westwärts ins sächsische Kamenz bringt. Sie schreibt: „Wir kamen in der Nacht an und gingen bei klirrender Kälte eine halbe Stunde bis Baitzen. Dort wurden wir mit offenen Armen und erleichterten Herzen von unseren Verwandten und von meiner Mutter und meiner Schwester Grete empfangen. War das ein schneller Abschied von meinem geliebten Breslau, das ich nie mehr wiedersehen sollte.“

Breslau wird zerstört

So entkommen Tochter und Vater knapp der Schlacht um Breslau, die Ende Januar beginnen und bis zum 6. Mai 1945 andauern wird. Die Russen bombardieren die Stadt, aus der niemand mehr heraus darf, und durchbrechen bald den äußeren Verteidigungsgürtel. 200.000 Soldaten der Roten Armee stehen im Häuserkampf 40.000 deutsche Soldaten gegenüber. 90 Prozent der Innenstadt Breslaus werden zerstört.

Nach dem Krieg wird Schlesien polnisch. Eine polnische Familie, die aus Galizien, das nun zu Russland gehört, vertrieben wird, übernimmt den Bauernhof der Verwandten. Der frühere Besitzer muss für seinen Nachfolger als Knecht arbeiten. Auch die Frauen werden von den Russen zu schweren Arbeiten herangezogen. Magdalena Broemel: „Wir mussten am Bahnhof Kohle abladen, in der Kiesgrube Sand verladen und besetzte Häuser für die Russen putzen. Dabei hatten wir immer die Angst im Nacken, vergewaltigt zu werden. Wir machten uns durch schlechte Kleider und ein schmutziges Gesicht so hässlich wie möglich, um dem zu entgehen.“

 Hannes Broemel mit der Taschenuhr, die die Flucht überstand.

Hannes Broemel mit der Taschenuhr, die die Flucht überstand.

Foto: Hans-Peter Fuß

Plünderungen in Steinbach

Von Baitzen bei Kamenz geht es zu Verwandten ins Gebirgsdörfchen Steinbach an der tschechischen Grenze. Dort hoffen Magdalena und ihr Vater, von den Russen verschont zu bleiben. Sie berichtet: „Aber auch hier kamen russische Einheiten durch und plünderten und vergewaltigten Frauen. Wir wurden an einem Tag zweimal beraubt. Viele Nächte versteckten wir uns im Wald. Deutsche Flüchtlinge kamen ausgeraubt, ausgehungert, geprügelt und völlig verängstigt durch unser Dorf. Tschechen plünderten und misshandelten die wenigen Männer. Es war eine schreckliche Zeit.“

Mit dem Zug in den Westen

An einem Tag im März 1946 müssen sich alle Deutschen auf dem Kirchplatz von Steinbach versammeln. Jeder darf nur das mitnehmen, was er tragen kann. Magdalena Broemel erinnert sich: „Nach einem zehn Kilometer langen Marsch nach Frankenstein kampierten wir zwei Tage in einer Schule. Die Polen durchsuchten unser Gepäck und nahmen von dem Wenigen, was wir noch hatten. Auf dem Bahnhof wartete ein Güterzug. Wir wurden in Viehwagen gepfercht und glaubten, es gehe nach Russland. Einen Tag und eine Nacht verbrachten wir im Zug, blieben auf Abstellgleisen stehen. Wir wurden von Russen bewacht. Durch die Ritzen konnten wir einzelne Stationen sehen. Hurra, es ging nach Westen.

Über Friedland nach Verl

Das Lager Friedland war die erste Station. Über Gütersloh ging es per Bus ins Örtchen Langenberg, wo die Flüchtlinge Bauern und Geschäftsleuten zugeteilt werden. Magdalena Broemel landet mit Eltern und Schwester Grete in Verl, wo ihnen eine ehemalige Zwangsarbeiterbaracke als Unterkunft zugewiesen wird. Die junge Frau arbeitet bei einem Bauern auf dem Feld: „Wir Flüchtlinge waren für die Bauern billige Arbeitskräfte. Mitgefühl schenkten sie uns kaum.“

An einem Tag im Mai wartet eine große Überraschung auf Magdalena Broemel: „Ich saß in der Baracke. Da ging die Tür auf und Claus stand vor mir. Ich konnte ihn gesund in meine Arme schließen.“ Claus Broemel ist aus russischer Gefangenschaft zurück und findet eine Stelle als Küchenchef im Hotel Kaiserhof in Gütersloh. Das Paar kauft eine Baracke in dem früheren Zwangsarbeiterlager. „Wir haben dort trotz Armut glückliche Jahre verlebt.“

Neue Heimat Uedorf

Im Mai 1953 fängt Claus Broemel als Koch in der Werkskantine der Union Kraftstoff (heute Shell) in Wesseling an. Im April 1954 zieht die junge Familie mit den Kindern Hannes und Bärbel in ein Reihenhaus des Werks nach Uedorf. Magdalena Broemel: „Wir waren überglücklich. Wir hatten jetzt fließend Wasser, eine Toilette im Haus und ein Gärtchen. Fast jeden Tag ging ich mit den Kindern an den Rhein. So ist uns Uedorf bald zur zweiten Heimat geworden. Viele Gäste gingen bei uns ein und aus. Wir blicken mit Dankbarkeit auf unser Leben zurück.“ Breslau wollte sie nicht wiedersehen.

„Sie wollte die Stadt ihrer Jugend so in Erinnerung behalten, wie sie sie verlassen hatte, mit der schönen Altstadt und ihrer geliebten Oper“, berichtet ihr Sohn Hannes Broemel. Sie habe immer gesagt: „Meine Heimat ist da, wo mein Haus und meine Familie sind.“

Letzte Ruhestätte in Hersel

Claus Broemel stirbt 1988 im Alter von 76 Jahren. Magdalena Broemel 1995 im Alter von 85 Jahren. Auf dem Herseler Friedhof findet das Paar nach einer bewegten Lebensreise seine letzte Ruhestätte.

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