Auschwitz-Prozess Späte Gerechtigkeit

LÜNEBURG · Erst jetzt, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, muss sich der 93-jährige Oskar Gröning vor Gericht verantworten. Er war SS-Mann in Auschwitz. Sein Fall ist beispielhaft für die Versäumnisse der deutschen Justiz.

 Gesteht eine moralische Schuld: Der ehemalige SS-Mann Oskar Gröning beim ersten Prozesstag vor dem Landgericht Lüneburg.

Gesteht eine moralische Schuld: Der ehemalige SS-Mann Oskar Gröning beim ersten Prozesstag vor dem Landgericht Lüneburg.

Foto: dpa

Plötzlich wird es laut. Der ehemalige SS-Mann Oskar Gröning betritt durch eine Seitentür den Gerichtssaal in der Lüneburger Ritterakademie. „Da ist der Teufel“, flüstert ein Journalist. Der Teufel trägt ein weißes Hemd, darüber einen beigen Pullunder.

Oskar Gröning, auch „Buchhalter von Auschwitz“ genannt, angeklagt wegen Beihilfe zum heimtückischen Mord in mindestens 300.000 Fällen, klammert sich an die Griffe seines Rollators, während ihn ein Justizbeamter mit Hilfe eines piepsenden Metalldetektors kontrolliert. Gröning ist 93 Jahre alt. Ein Mann am Ende seines Lebens, ein Greis, der büßen soll, was ein 21-Jähriger getan hat.

Wenn er verurteilt wird, drohen ihm mindestens drei Jahre Haft. Doch den Überlebenden des Holocausts, die als Nebenkläger am Verfahren teilnehmen, kommt es nicht vorrangig auf das Strafmaß an. „Er soll hören, dass er mitverantwortlich war für das, was sich in der Tötungsmaschinerie ereignete“, so die Auschwitz-Überlebende Hedy Bohm.

Auch andere Stimmen sind zu hören: „Ist es nicht unverantwortlich, jetzt noch auf fast 95-Jährige zuzugreifen?“, fragt ein Journalist den Nebenkläger-Anwalt Thomas Walther am Tag vor dem Prozessbeginn. „Die Unverantwortlichkeit liegt darin, dass die deutsche Justiz nicht das tat, was sie hätte tun sollen“, antwortete der. 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs sitzt mit dem SS-Mann Gröning auch die deutsche Nachkriegsjustiz auf der Anklagebank.

6500 Männer und Frauen taten zwischen 1940 und 1945 alleine im Lager Ausschwitz ihren Dienst. Nur rund 750 von ihnen wurden für ihre Taten – vor allem vor polnischen Gerichten – juristisch belangt. Deutsche Gerichte verurteilten lediglich 49 Angeklagte. „In dieser Hauptverhandlung wird man auch aufklären müssen, wie diese Untätigkeit der Justiz sich über Jahrzehnte hinweg hingezogen hat“, kündigte Nebenkläger-Anwalt Professor Cornelius Nestler an.

Der große Mehrzweckraum der Ritterakademie wurde eigens für den Prozess zum Gerichtssaal umfunktioniert. Die Protagonisten sitzen an klappbaren Holztischen, die mit schwarzen Stoffen verkleidet sind. Am Eingang weist ein Plakat auf ein baldiges Konzert im Saal hin. Es ist eine sonderbare Kulisse für den vielleicht letzten Akt der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen.

Gröning selbst scheint sich seiner Rolle in diesem historischen Prozess bewusst zu ein, als er in seiner Einlassung ein Geständnis vorliest: „Ich bekenne meine moralische Schuld mit Demut und Reue vor den Opfern.“ In der Vergangenheit hatte er eine persönliche Schuld stets abgestritten.

Wer mit Gröning gesprochen hatte, berichtete, dass „er sich davor schützt, die volle Verantwortung zu übernehmen“, so der Historiker Laurence Rees. „Seit 60 Jahren sucht Gröning nach einem anderen Wort für Schuld“, schreibt der Journalist Matthias Geyer. Heute beteuert der 93-Jährige, eine Wandlung durchgemacht zu haben.

Gröning war Leiter der Devisenabteilung in der Häftlingsgeldverwaltung von Auschwitz. Seine Hauptaufgabe bestand darin, das Geld der in das Lager verschleppten Menschen zu zählen. Daneben arbeitete er auf der Rampe, an der die Züge mit den Menschen hielten. Er bewachte das Gepäck der Ankömmlinge und sorgte für einen reibungslosen Ablauf.

Die Anklage beschränkt sich auf Frühjahr und Sommer 1944. Damals wurden 400 000 Menschen aus Ungarn ach Auschwitz transportiert – eine Zeit, in der die Krematorien bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gebracht wurden. Die Anklageschrift verliest der Hannoveraner Staatsanwalt Jens Lehmann, der auch die Lebens- und Sterbensumstände der Lagerinsassen, den minutenlangen Todeskampf in den Gaskammern nicht auslässt.

„Nach der Vergasung waren die Körper oftmals so ineinander verhakt, dass sie mit Axtschlägen getrennt werden mussten“, sagt er. Während Lehmann vorträgt, versagt sein Mikrofon. Grausame Details mit verzerrter Stimme, immer wieder Aussetzer – eine gefühlte Ewigkeit.

Eva Pusztai-Fahidi, Holocaust-Überlebende und Nebenklägerin in dem Verfahren, hält fast die ganze Zeit ihre Augen geschlossen. Und Gröning? Er wirkt ungerührt. Sein Blick geht starr geradeaus – ein Mann, der weiß, dass dies nicht die letzten Gräuel waren, von denen hier die Rede sein wird.

Oskar Gröning kommt 1921 in Nienburg an der Weser als Sohn eines Textilfacharbeiters zur Welt. Später beginnt er eine Lehre bei der Sparkasse. 1940 meldet er sich als Freiwilliger zur Waffen-SS. „Warum?“, will der Vorsitzende Franz Kompisch wissen. „In 18 Tagen haben wir die Polacken verhauen“, so Gröning. Die SS seine „eine zackige Truppe“ gewesen, eine „eigene Kaste, und ich wollte dazu gehören.“

Gröning war ein Nazi mit vorbildlicher Einstellung. Sein Dienstleistungszeugnis bescheinigte ihm, „weltanschaulich gefestigt zu sein“.

Gegen Ende 1942 erhält er einen Auftrag. „Sie kommen an einen Ort, der ihnen mehr noch als an der Front Opfer abverlangt“, wird ihm mitgeteilt. Am 26. September 1942 wird er nach Auschwitz versetzt. Er habe nicht geahnt, was ihn dort erwartet, sagt Gröning. In der Nacht seiner Ankunft sei viel Wodka geflossen. Die Kameraden berichten: „Die Juden, die nicht arbeiten können, werden entsorgt“. Was er dabei gedacht habe, fragt der Richter.

„Es hieß, die Juden waren die Feinde des deutschen Volkes. Entsorgung war ein Begriff, den wir für vernünftig gehalten hatten“, berichtet Gröning. Doch dann, bei einem Einsatz auf der Rampe, sei für ihn „eine Welt zusammengebrochen“: Die ankommenden Häftlinge waren bereits abmarschiert, da hörten Wachmänner die Schreie eines Babys.

Dessen Mutter hatte das Kind zwischen den zurückgebliebenen Gegenständen abgelegt, „weil die sich wohl dachte, sie hätte eine bessere Chance, wenn es zur Sortierung geht“, so Gröning. Ein SS-Mann nahm das Baby und schlug seinen Kopf gegen einen Lastwagen. „Dann hörte es auf zu schreien.“ Die „Entsorgung“ vieler tausend Juden: vernünftig. Die Ermordung eines Kindes: grausam – die verquere Logik eines SS-Bürokraten.

Auch bei seinem Auftritt vor Gericht bleibt Gröning ein Rätsel. Als er ein Schluck Wasser aus der Flasche nimmt, sagt er: „Jetzt mache ich es wie mit dem Wodka in Auschwitz.“ Ein anderes Mal: „Man muss sich doch wundern, was die Juden an Wertgegenständen alles mit ins Lager gebracht haben.“

Sind es die Worte eines Mannes, der wirklich verstanden hat und aufrichtig bereut, was geschehen ist? Das Geständnis des ehemaligen SS-Mannes hinterlässt Zweifel. Immerhin: Gröning redet. „Er hätte sich wie Tausende andere Nazis im Schatten verbergen können. Wenige hatten den Mut, nach vorne zu treten“, sagt die Holocaust-Überlebende Eva Kor.

Dass es 70 Jahre nach dem Krieg überhaupt noch zu einem Prozess gegen Oskar Gröning kommen konnte, ist einem Gerichtsurteil von 2011 zu verdanken. Im Verfahren gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk hat der Richter entschieden, dass es für einen Schuldspruch nicht den Nachweis für eine direkte Beteiligung an den Mordtaten in Vernichtungslagern bedarf.

„Es ist eine Rückbesinnung einer Staatsanwaltschaft und eines Gerichts auf das seit fünf Jahrzenten geltende Recht“, sagte Nestler. Zum Leidwesen der Opfer fand dieses Recht jedoch in der Praxis keine Anwendung. Auch auf Gröning wird die Staatsanwaltschaft Frankfurt schon 1977 aufmerksam. Doch die Ermittlungen werden „aufgrund nicht hinreichenden Tatverdachts“ acht Jahre später eingestellt.

Die Versäumnisse der deutschen Gerichte sind heute ebenso historische Wahrheit wie der Holocaust selbst. Von einem „Desaster“ spricht der Historiker Norbert Frei. „Die zweite Schuld“ nannte dies der Publizist Ralph Giordano. Bis zum Jahr 2005 wurden insgesamt 36.393 Strafverfahren gegen 172.294 Beschuldigte geführt. Verurteilt wurden 6656 Personen, 5184 wurden freigesprochen. 16 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, davon wurden vier Todesurteile vollstreckt.

Dabei begann das Vorhaben, die NS-Täter zur Rechenschaft zu ziehen, durchaus ambitioniert. Schon 1942 reifte bei Churchill und Roosevelt der Gedanke, die Hauptverantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen. In der Realität erwies sich das Vorhaben allerdings als schwierig – zu verschieden waren die einzelnen Rechtsvorstellungen der Besatzungsmächte, wie schon der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vom 18. Oktober 1945 zeigte.

Die junge Bundesrepublik erlangte erst nach 1950 ihre Justizhoheit zurück. Doch auch danach zeigten deutsche Gerichte nur wenige Anstöße zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Schon Anfang der 50er Jahre herrschte die Auffassung vor, dass die meisten Straftaten ja bereits aufgearbeitet worden seien. Die Mehrheit der Deutschen wünschte sich, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Das wirkte sich auch auf die Besatzungsmächte aus.

Die USA, die bereits Ende der 50er Jahre Deutschland als einen wichtigen Verbündeten im Kalten Krieg auf dem Kontinent ansahen, ermöglichten innerhalb weniger Jahre nachträgliche Strafminderungen und vorzeitige Haftentlassungen, sogar von Personen, die ursprünglich zum Tode verurteilt worden waren.

Hinzu kam, dass sich nach Abschluss der Entnazifizierungsverfahren viele ehemalige Nazis, die zunächst als Juristen aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen waren, nun wieder als Richter und Staatsanwälte agierten. Vermutlich wäre es in den 60er Jahren nicht einmal zum Frankfurter Auschwitzprozess gekommen, hätte sich nicht der damalige Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, selbst ehemaliger KZ-Häftling, persönlich dafür eingesetzt.

Auch Gröning lebte nach dem Krieg viele Jahre unbehelligt. Weder änderte er seinen Namen, noch musste er untertauchen. Er arbeitete als Lohnbuchhalter in einer kleinen Fabrik. Später wurde er sogar zum ehrenamtlichen Richter am Arbeitsgericht berufen.

Erst die Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung von NS-Straftätern im Jahr 1958 brachte eine Wende. Erstmals wurde so eine systematische Verfolgung von NS-Verbrechern ermöglicht. Die Folge war, dass die Zahl der Ermittlungen sprunghaft stieg. Strafverfahren und Verurteilungen waren allerdings weiterhin schwierig.

„Die Justiz in den 60er Jahren hat mit der Konstruktion gearbeitet: Hitler, Himmler, die haben das gemacht, und alle anderen, wenn sie sich den verbrecherischen Willen Hitlers zu eigen gemacht haben, haben nur Beihilfe geleistet – eine wunderbare Konstruktion, die der Stimmungslage in Deutschland entsprochen hat“, erklärt Nestler.

Um einen Tatwillen festzustellen, forderten die Gerichte auch bei Verbrechen, an denen mehrere beteiligt waren, dass ein individueller Tatbeitrag festgestellt werden müsse. Im Fall der „arbeitsteiligen“ Verbrechen des NS-Regimes ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen – so blieb es bis zum Demjanjuk-Urteil 2011.

Am frühen Nachmittag geht der erste Prozesstag in Lüneburg zu Ende. Der 93-jährige Gröning ist erschöpft. „Der Herrgott selbst war im Vergleich zu einem SS-Mann ein Niemand in Birkenau“, sagte Pusztai-Fahidi im Vorfeld. Sie und andere Überlebende können vor Gericht ihre Erlebnisse aus dem Lager schildern. Der Angeklagte Gröning, weder Gott noch Teufel, wird zuhören müssen. Eine späte Gerechtigkeit.

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