Kanal „Nichtseher mit Durchblick“ Blindes Ehepaar aus Troisdorf zeigt seine Welt auf Youtube

Troisdorf · Ella und Marc Petry zeigen mit einem eigenen Youtube-Kanal ihr Leben als Sehbehinderte. Das Ehepaar aus Troisdorf wünscht sich mehr Entgegenkommen im Alltag.

Das Ehepaar aus Troisdorf ist nicht von Geburt an blind. Bei beiden zeigte sich die Erkrankung erst im Grundschulalter.

Das Ehepaar aus Troisdorf ist nicht von Geburt an blind. Bei beiden zeigte sich die Erkrankung erst im Grundschulalter.

Foto: Thomas Heinemann

Ob Nachbarskinder, die mit ihm „Blinde Kuh“ spielen wollten, oder Menschen, die ihn in einen falschen Zug geschoben haben, Anekdoten kann Marc Petry viele erzählen – und herzlich darüber lachen. Es sind aber weniger Erlebnisse wie diese, die den sehbehinderten Troisdorfer bewogen haben, gemeinsam mit seiner ebenfalls blinden Frau Ella einen Youtube-Kanal zu betreiben. „Er ist nach einer Reihe frustrierender Erfahrungen entstanden“, sagt der 29-Jährige. Seit Mitte November erklären die Petrys über das Videoportal Youtube ihre Sicht der Welt und möchten aufklären – als „Nichtseher mit Durchblick“.

„Wir wollen gesehen werden“, sagt Marc Petry. In der Troisdorfer Innenstadt sei er mehrfach an einem Infostand vorbeigegangen, ohne ein einziges Mal angesprochen zu werden, beschreibt er, was ihn im Alltag ärgert. Dazu zählen auch Radfahrer, die rücksichtslos durch die Fußgängerzone heizen. Mehr Aufmerksamkeit wünscht sich auch Ella Petry: „Wer Fragen hat, soll uns einfach ansprechen“, sagt die 31-Jährige. Falsche Rücksichtnahme ärgert sie. „Inklusion hat zwei Seiten, auch wir passen uns gerne an“, stellt Marc klar. Er findet, dass es ein Umdenken braucht: „Es wird viel über Inklusion gesprochen, allerdings nicht mit behinderten Menschen.“

„Nichtseher mit Durchblick“ erblindeten nicht von Geburt an

Das Ehepaar aus Troisdorf filmt und schneidet seine Videos selbst.

Das Ehepaar aus Troisdorf filmt und schneidet seine Videos selbst.

Foto: Thomas Heinemann

Ella und Marc Petry verbindet eine ähnliche Geschichte. Beide leben nicht von Geburt an mit einer Beeinträchtigung ihrer Sehkraft, bei beiden wurde sie erst im Grundschulalter festgestellt. Beide haben eine Form der juvenilen Makula­degeneration. Das ist eine Erkrankung der Netzhaut, die zu einem Sehverlust im zentralen Gesichtsfeld führt. Da auch Ellas Eltern sehbehindert sind, wurde die Erbkrankheit bei ihr schnell diagnostiziert. Bei Marc vergingen von den ersten Symptomen bis zur Diagnose drei Jahre. „Das war wie ein böses Erwachen für meine ganze Familie“, erinnert sich der heute 29-Jährige. Damals habe auch seine Mutter erfahren, dass sie sehbehindert ist und die Krankheit an Marc, nicht aber an seine sechs Geschwister vererbt hat.

„Im Zentrum flimmert es, das Gesichtsfeld ist aber intakt“, erklärt Ella ihr Sehen. Die Lampe, die neben ihr steht, erkennt sie ebenso wie den Tisch an ihrer Seite, nicht aber das, was genau vor ihr ist. „Wir haben eine Sehkraft von zwei bis drei Prozent“, sagt sie. Seine Uhr kann er dank extra großer Ziffern lesen, sagt Marc: „Unter den Blinden sind wir die Adler.“

Ihr Leben gestalten Ella und Marc Petry, die sich vor vier Jahren in einem EDV-Kursus im Berufsförderungswerk in Düren kennengelernt haben, selbst. „Wir bekommen das komplett allein geregelt“, sagt Marc. Im Rehabilitationsprogramm in Düren haben die Petrys, die 2018 geheiratet haben, gelernt mit dem Blindenstock zu laufen, mit auditiven Hilfsmitteln umzugehen oder die Brailleschrift zu lesen. In ihrer Wohnung spricht nicht nur die Küchenwaage mit ihnen. „Das Smartphone ist ein Segen, es gibt für fast alles eine Sprachausgabe“, sagt Marc.

Youtube-Kanal soll Menschen wachrütteln

Während Ella seit anderthalb Jahren als Verwaltungsfachangestellte bei der Stadt Lohmar arbeitet, ist Marc momentan auf Arbeitssuche. „Ich möchte einen Job, der meiner Neigung, auf Menschen zuzugehen, entgegenkommt“, erklärt er. Oft sei aber genau das nicht gewünscht. „Viele sehen Sehbehinderte in Berufen wie Telefonist oder Physiotherapeut“, sagt Marc. „Wir können aber sehr viel mehr“, ärgert er sich. Blindenverbände seien ihm bei seinen Versuchen, aus dem Klischee auszubrechen, bislang keine Hilfe gewesen. „Deswegen hatte ich die Idee, selbst aktiv zu werden und auf unsere Situation aufmerksam zu machen“, sagt Marc, der aus Trier stammt.

„Wir sehen unseren Kanal als Knuff in die Rippen der Menschen, die unsere Probleme politisch und gesellschaftlich beschäftigen sollten“, sagt der 29-Jährige. Ihre Videos machen die Petrys ohne fremde Hilfe. „Wir drehen selbst und machen auch die Videobearbeitung“, so Marc. Das sei viel Arbeit, seine Ausbildung in Musik- und Soundtechnik komme ihm dabei entgegen.

Vier Videos haben die „Nichtseher mit Durchblick“ bislang veröffentlicht. Darin erzählen sie ihre persönliche Geschichte und beschreiben, wie sie die Welt sehen – ganz konkret, vor allem aber auch im übertragenen Sinne. Mehr als 200 Aufrufe haben ihre Videos, die ersten haben sie schon in der Troisdorfer Innenstadt angesprochen. „Wir wurden gefragt, wann die nächsten Videos kommen“, freut sich Marc.

Ideen haben er und Ella noch für viele weitere Folgen. „Es gibt noch so viele Themen“, sagt Marc. Barrierefreiheit sei eines, zudem sei geplant, ihre Sicht auf die Welt durch Interviewpartner zu erweitern. Auch die Familie soll zu Wort kommen.
Marcs Familie findet gut, was er und Ella machen. „Meine Eltern wissen noch gar nichts von dem Kanal“, verrät Ella. Negative Reaktionen auf seinen Internetauftritt hat das Troisdorfer Paar noch nicht gehabt. Die fürchtet es nicht: „Ich möchte den richtigen Weg gehen, nicht den leichten“, sagt Marc.

Sein Schicksal hat er nach dem ersten Schock vor fast 20 Jahren angenommen. „Wenn ich noch sehen könnte, hätte ich wahrscheinlich vieles anders gemacht“, sagt er. „Aber ob es besser gewesen wäre, ist fraglich.“

Die „Nichtseher mit Durchblick“ sind auf Youtube, Facebook und Instagram unterwegs. Mehr gibt es im Internet unter www.nichtseher.de

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