Geschichte Siegburgs Winkelprediger vor den Stadttoren

Siegburg · Die Protokolle des Schöffengerichts geben Einblick in das Siegburg des 16. Jahrhunderts. Stadtarchivarin Andrea Korte-Böger gibt Einblicke in die Gerichtsprotokolle.

Stich mit einer der ältesten Darstellungen Siegburgs: So soll die Stadt um 1642 ausgesehen haben.

Stich mit einer der ältesten Darstellungen Siegburgs: So soll die Stadt um 1642 ausgesehen haben.

Foto: Holger Arndt

Schimpf und Schande am Weihnachtsfest? Das klingt nicht eben christlich, und es muss Konsequenzen haben. Wir schreiben das Jahr 1577. Der Siegburger Vogt Anno Knütgen gibt urkundlich abgesichert bekannt, dass der derzeitige Siegburger Pastor in Troisdorf am 26. Dezember 1575 über den Vogt und den Rat gelästert habe. Das Siegburger Schöffengericht dokumentiert diesen Fall am 16. Januar 1577. Es ist nur einer von vielen, der in den jetzt veröffentlichten Gerichtsprotokollen aus den Jahren 1572 bis 1578 nachzulesen ist.

Damit erscheint nach längerer Pause wieder einmal ein Band der Editionsreihe, insgesamt ist es der siebte. Am Schöffengericht, dessen Originalakten im Siegburger Stadtarchiv liegen, wurden nicht etwa Straftaten verhandelt. „Dieses Gericht hatte die Funktion eines Notariats, und es wurden vor allem Ordnungswidrigkeiten thematisiert“, sagt Andrea Korte-Böger. Die Stadtarchivarin gibt die Bände mit dem Geschichts- und Altertumsverein für Siegburg und den Rhein-Sieg-Kreis heraus. Sie hat die Texte, die von Günter Henseler transkribiert worden sind, für heutige Leser übersetzt und eingeordnet.

Es sind gerade die kleinen Fälle, die Ordnungswidrigkeiten, die einem den Alltag im Siegburg des 16. Jahrhunderts nahebringen. „Im Prinzip ist es ja heute noch so: Wer wissen will, was los ist, der geht eine Runde mit dem Ordnungsamt durch die Stadt“, sagt Korte-Böger. Durch die Gerichtsprotokolle hat sie einen ganz anderen Eindruck vom Leben in damaliger Zeit bekommen. Das betrifft zum Beispiel das Familienbild. Die heile, intakte Großfamilie – sie scheint nur ein Mythos zu sein. „Patchwork gab es schon zu damaliger Zeit“, sagt Korte Böger. Oft starb der Vater oder die Mutter früh.

Der Hinterbliebene heiratete wieder, und auch der Partner hatte Familie. Wenn es ganz schlimm kam, starb danach wieder ein Elternteil, und es wurde wieder geheiratet. So wurden Familienverhältnisse unüberschaubarer, mit allen Konsequenzen für Eigentum, die Versorgung der Kinder und Erbansprüche. Geregelt wurden solche Fragen vom Schöffengericht. Das betrifft auch die Altersversorgung. Seniorenheime gab es noch nicht. „Teilweise kauften sich die Alten in Gaststätten ein“, sagt Andrea Korte-Böger. „Dort hatten sie einen festen Platz, sie bekamen Essen und saubere Wäsche.“

Im neuen Band treten aber auch die Reformationsstreitigkeiten zutage: Innerhalb der Stadtmauern durfte nicht reformiert werden, deshalb standen vor den Toren Sektierer und Winkelprediger. Wer ihnen zu nah kam, musste sich vor Gericht verantworten und mit harten Strafen rechnen. Oberste Instanz: der Abt. „Es war ein sehr strenges Rechtssystem, ohne Anwälte und Ermittlungsbehörden wie wir sie heute kennen“, so Andrea Korte-Böger. Es bestand Anzeigepflicht, und neben Zeugen spielten Bürgen eine zentrale Rolle. „Es hing jede Menge von Freundschaft und good will ab“, erklärt die Archivarin.

Die aktuelle Ausgabe der Reihe dürfte aber auch für Genealogen interessant sein: Der Personenindex ist umfassend. Dort werden mehr als Siegburger genannt, die in keinem anderen Verzeichnis – etwa in den erst später aufkommenden Kirchenbüchern – verzeichnet sind. Insgesamt sind im Stadtarchiv Schöffengerichtsakten mit 8500 handgeschriebenen Protokollen aus den Jahren 1417 bis 1662 vorhanden. Sie werden nach und nach editiert.

Protokolle des Siegburger Schöffengerichts Band 7, 248 Seiten, Gerichtsverhandlungen 1572 bis 1578. Erhältlich für zwölf Euro im Buchhandel oder unter www.rheinlandia.de.

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