Physiker erklärt in Königswinter den Fußball Ein Plädoyer für die Ungerechtigkeit

KÖNIGSWINTER · Der Physiker Metin Tolan erklärte auf Einladung der Volkshochschule Siebengebirge im Haus Bachem, warum beim Fußball nicht immer der Bessere gewinnt.

 Selbst ist der Physiker: Metin Tolan probiert sich vor seinem Vortrag beim Tippkick.

Selbst ist der Physiker: Metin Tolan probiert sich vor seinem Vortrag beim Tippkick.

Foto: Frank Homann

Die gute Nachricht vorweg: Zieht man das Abschneiden – genauer: die durchschnittliche Anzahl der erzielten Tore – bei allen bisherigen Europameisterschaften als Berechnungsgrundlage heran, dann hat die deutsche Nationalmannschaft rein statistisch gesehen tatsächlich die besten Chancen, diesen Sommer in Paris die Trophäe in die Höhe zu stemmen. Die Chance steht bei 14,27 Prozent, um genau zu sein. Knapp dahinter folgen Frankreich und Portugal.

Aber: Allzu ernst nehmen sollte man dieses Zahlenexperiment nicht. Denn, relativierte Metin Tolan, Professor für experimentelle Physik an der Technischen Universität Dortmund, nicht nur sei die Rechnung enorm simplifiziert – Fußball sei zudem eine der ungerechtesten Sportarten der Welt, in der man auf alles gefasst sein müsse. Aber gerade diese Ungerechtigkeit, argumentierte Deutschlands vielleicht originellster Physik-Erklärer auf Einladung der Volkshochschule Siebengebirge im Haus Bachem, sei eine tolle Sache.

Dass der eigene Lieblingsverein auf dem Platz immer benachteiligt werde, gelte aus Fan-Sicht vielleicht als frustrierende Wahrheit, so Tolan zur Einleitung seines Vortrag über „Die Physik des Fußballs“, doch als Experimentalphysiker gelte sein Interesse den wirklich objektiven Tatsachen. Zum Beispiel der Gerechtigkeit als errechenbare Größe: „Eine Sportart ist umso gerechter, je häufiger der objektiv Bessere gewinnt“, definierte Tolan und fügte an: Die objektiv bessere Mannschaft sei dasjenige Team, das mit einer höheren Wahrscheinlichkeit das nächste Tor schieße. Der Bessere schießt also mehr Tore und gewinnt – eigentlich eine klare Angelegenheit. Tatsächlich? In der Bundesliga, fuhr der Experte fort, habe ein nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeitsrechnung lediglich halb so gutes Team noch immer eine Chance von 26 Prozent, über die objektiv überlegene Mannschaft zu triumphieren. Wie kann das sein?

Ganz einfach: Für den Sieg genüge im Fußball bereits ein einziges Tor, in Sportarten wie Basketball und Handball hingegen sei die Trefferquote so hoch, dass der bloße Ballbesitz für gewöhnlich einen Treffer nach sich ziehe. Da pro Bundesligaspiel im Durchschnitt drei Tore fielen, sei jeder einzelne versenkte Schuss bedeutsamer als etwa ein einzelner Korb im Basketball. „Um zu gewinnen, reicht oft ein einziger Glückstreffer“, so Tolan. Ungerecht? Natürlich. Aber auch um einiges spannender. Denn wenn beim Fußball mehr Tore fallen würden, wäre jedes Spielergebnis zwar gerechter – aber die Spiele selbst verlören ihren größten Reiz: die Unvorhersehbarkeit. „Wenn zu viele Tore fallen, hat das schwächere Team kaum noch Siegchancen“, erläuterte der Physiker. „Wenn Sie sich also ernsthaft wünschen, dass es im Fußball grundsätzlich mehr Tore gibt, dann wünschen Sie sich auch, dass Bayern München noch öfter Meister wird.“

Klar, auf jedes Tor komme es an. Deshalb könne er gut nachvollziehen, dass Fans jede Fehlentscheidung zugunsten des Gegners auf die Palme treibe, so Tolan. Doch bevor man den Schiedsrichter, der die eigene Lieblingself mit einer unsinnigen Abseitsentscheidung um den Sieg gebracht habe, als unfähigen „Blindfisch“ abtue, müsse man bedenken: Dass überhaupt nur etwa jede zehnte Entscheidung falsch sei, sei eine erschreckend gute Quote, besser als es im Rahmen der Naturgesetze erlaubt sein dürfte. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit von Ball und Spielern sei es nämlich oftmals biologisch und physikalisch geradezu unmöglich, die Seheindrücke auf dem Platz schnell und akkurat genug verarbeiten zu können – stattdessen müssten die Unparteiischen aus ihrem Erfahrungsschatz schöpfen, um Spielsituationen zu lesen.

Warum man dann keine Videobeweise einführe? „Na, weil Sie dann wieder den Zufall eliminieren“, erklärte Tolan. Nicht ohne Grund hätten ausgerechnet große Vereine wie München und Dortmund, die davon profitieren würden, zunächst technische Hilfsmittel befürwortet. „Okay, Braunschweig auch, aber die haben's nicht verstanden.“

Auch so manches Fußballmärchen der Marke „Zu gut, um wahr zu sein“ entzauberte der Physikprofessor. Wikipedia etwa behauptet, der schnellste Schuss aller Zeiten gehe auf das Konto des Brasilianers Ronny – ein Freistoß, beschleunigt auf über 210 Stundenkilometer. Realistisch? Tolan rechnete nach und kam zum Ergebnis: Ronny hätte mit einer Geschwindigkeit von 52 Stundenkilometern anlaufen müssen. Zum Vergleich: Bei seinem Weltrekord über 100 Meter im Jahr 2008 sprintete Usain Bolt in der Spitze mit „nur“ rund 45 Stundenkilometern. Rein logisch lasse das also zwei Schlüsse zu, zog Tolan sein Fazit: „Entweder hat man sich bei der Messung des Schusses vertan. Oder aber Ronny hat sich ganz eindeutig die falsche Sportart ausgesucht.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort