Kreis lässt Naziverbrechen aufarbeiten Der Eudenbacher Josef Fuhr starb in der Gaskammer

Königswinter · Der Eudenbacher Josef Fuhr wurde im Juli 1941 in der Tötungsanstalt Hadamar Opfer der Nationalsozialisten. Das ergab die Recherche seines Enkels. Der Rhein-Sieg-Kreis lässt nun als erste Kommune die Medizinverbrechen der Nazis aufarbeiten.

Das Schicksal seines Großvaters hat Wilbert Fuhr nie in Ruhe gelassen. „Ich habe das immer im Kopf gehabt und immer wieder geschoben, Nachforschungen anzustellen“, sagt der 73-jährige Eudenbacher. Keiner in seiner Familie habe über den Tod des Opas gesprochen. Dem Enkel gelang es jedoch, nach und nach das Verbrechen, das die Nationalsozialisten an Josef Fuhr verübt hatten, aufzudecken – die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.

Josef Fuhr, der am 16. Januar 1884 in Komp, nahe Eudenbach, geboren wurde, hatte 1911 an der Hauptstraße in Eudenbach, die heute Eudenbacher Straße heißt, ein kleines Haus mit Grundstück erworben. 1912 heiratete er seine Frau Anna-Maria, die zwischen 1913 und 1922 vier Söhne und eine Tochter zur Welt brachte. Als Soldat wurde Josef Fuhr im Ersten Weltkrieg schwer verletzt. Nach einer langen Genesungsphase baute der gelernte Möbelschreiner in Eudenbach eine Bau- und Möbelschreinerei mit zwei Angestellten auf. Wilbert Fuhr zeigt das Lohn- und Auftragsbuch seines Großvaters der Jahre 1924 bis 1929. Darin stehen zum Beispiel Auftrag und Kostennachweise für den Bau des Eudenbacher Schulhauses.

Fuhr starb mit 57 Jahren

Nachdem Josef Fuhr sich 1926 schon einmal für eine Woche in der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt in Bonn, der heutigen Landesklinik, aufgehalten hatte, war er dort von 1934 bis 1941 dauerhaft als Patient. Am 18. Juni 1941 wurde er von Bonn in die Nervenklinik Andernach verlegt, die jedoch nur eine Zwischenstation auf dem Weg in den Tod war. Am 25. Juli 1941 wurde der Vater von fünf Kindern in einem Transport mit 65 weiteren Patienten nach Hadamar gebracht und dort noch am gleichen Tag vergast. Josef Fuhr wurde 57 Jahre alt.

Welche Krankheit sein Opa gehabt haben soll, konnte Wilbert Fuhr bis heute nicht genau ermitteln. In der Krankenakte, die er kürzlich im Archiv des Rhein-Sieg-Kreises einsehen konnte, ist von verschiedenen Erkrankungen die Rede. Fuhr hält es für möglich, dass diese auf die Verletzung im Ersten Weltkrieg zurückzuführen waren.

1991 begann er, die Geschichte seiner Familie zu recherchieren. Acht Jahre zuvor war sein Vater Josef gestorben. „Aber weder mein Vater noch meine Tante Maria haben mir etwas gesagt“, erzählt er. Da seine Eltern erst 1944 geheiratet hatten, konnte ihm auch seine Mutter nur wenig über das Schicksal seines Großvaters berichten. „Es hieß damals immer nur, dass er krank und in Bonn war. Ich wollte und musste Tatsachen feststellen, über die in meiner Familie und mit meinen Verwandten nicht oder nur ungerne gesprochen wurde“, sagt er.

Falschbeurkundungen waren die Regel

Laut einem Eintrag des früheren Standesamtes Oberpleis im Familienstammbuch starb Josef Fuhr in Bernburg an der Saale. Solche Falschbeurkundungen waren bei den Medizinverbrechen der Nazis die Regel. In einem Schreiben an die Angehörigen wurde denen dann häufig mitgeteilt, dass ihr Familienmitglied an einer akuten Hirnhautentzündung gestorben sei. Da der Verstorbene an einer schweren und unheilbaren geistigen Krankheit gelitten habe, sollten sie seinen Tod als Erlösung auffassen.

Die Mahn- und Gedenkstätte Bernburg war es, die Wilbert Fuhr im August 1991 mitteilte, dass sein Großvater im Juli 1941 in einem grauen Bus von der Nervenklinik Andernach nach Hadamar transportiert und dort wahrscheinlich noch am gleichen Tag in der Gaskammer ermordet wurde. Bernburg und Hadamar waren zwei von sechs Tötungsanstalten, in denen zwischen 1939 und 1941 insgesamt 70 253 PatientInnen von Heil- und Pflegeanstalten „durch den Kamin gingen“, wie es die Nazis zynisch formulierten.

Fuhr schrieb an Bundespräsident Herzog

Weil das Thema der Medizinverbrechen nach seiner Ansicht nicht nur in seiner Familie, sondern auch in der Gesellschaft zu lange tabuisiert wurde, schrieb Wilbert Fuhr im Februar 1995 an den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Allem werde in Deutschland gedacht, nur der Euthanasie-Opfer nicht. Das Büro des Bundespräsidenten antwortete damals, Roman Herzog werde bei einem Besuch des Konzentrationslagers Bergen-Belsen aller Opfer der deutschen Massenvernichtung gedenken.

Im gleichen Jahr noch besuchte Wilbert Fuhr Hadamar, wo sich damals schon eine Mahn- und Gedenkstätte für Opfer der NS-Euthanasie befand. Er wollte die Räume sehen, in denen das Leben seines Großvaters auf so schreckliche Weise beendet wurde. „Ich war froh, dass ich diesen Gang nicht alleine antreten musste“, sagt er. Noch heute fällt es ihm schwer, über diesen Tag zu sprechen.

Kreis erforscht Medizinverbrechen

20 Jahre später hat ein Projekt des Rhein-Sieg-Kreises, über das der General-Anzeiger im Juni 2016 berichtete, das Thema bei Wilbert Fuhr erneut wachgerufen. Der Kreis hat in Kooperation mit dem Landschaftsverband Rheinland eine Gruppe von Forschern beauftragt, die Medizinverbrechen im heutigen Kreisgebiet zu erforschen.

Wilbert Fuhr wird dabei mithelfen. Er ist jetzt mit sich selbst im Reinen. „Es gab bisher keine Familiengeschichte Fuhr. Ich wollte das aber für mich und meine Kinder herausfinden“, sagt er. Neben dem Schicksal des Großvaters denkt er auch oft über seine 1960 verstorbene Großmutter nach. „Der Oma ist der Mann genommen worden. Zwei Söhne sind im Krieg in Italien und Russland gefallen. Ihr ist schweres Leid zugefügt worden, sie hat es sich aber nie anmerken lassen. Diese bescheidene Frau hat das alles einfach ertragen.“

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