Lesung von Dirk Kurbjuweit Wenn der nette Nachbar zum Stalker wird

NIEDERDOLLENDORF · Ein Mann im Publikum hatte eine andere Lösung. "Hätte Herr Tiberius mir morgens Kekse vor die Tür gestellt, dann hätte ich ihn für den Abend zum Spargel eingeladen." Aber Dirk Kurbjuweit winkte ab: "So leicht ist das nicht mit diesen Menschen." Konkret: mit Stalkern.

Der langjährige Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros las auf Einladung des Vereins "Literatur im Siebengebirge" (LiS) und der Dollendorfer Bücherstube aus seinem Roman "Angst".

Es ist jener Titel, um den sich in dieser Woche die LiS-Veranstaltungsserie "Das Siebengebirge liest ein Buch" drehte. Das harmonische Leben der Berliner Architekten-Familie Tiefenthaler gerät aus den Fugen, als sie in ihre neue Wohnung zieht. Es fängt harmlos an - der Nachbar aus dem Souterrain stellt einen Teller mit Keksen vor die Tür.

Doch irgendwann sind es nicht mehr Plätzchen, sondern Briefe, die auf dem Fußabtreter liegen, mit ungeheuerlichen Behauptungen. Herr Tiberius unterstellt Kindesmissbrauch. Der nette Nachbar wird zum Stalker, der in Abwesenheit des Hausherrn abends durchs Fenster schaut und schließlich sogar Anzeige erstattet.

Der Verlauf der Geschichte fesselte die Zuhörer, die im Anschluss mit dem Autor diskutierten und auch die Dramaturgie der Lesung lobten. Kurbjuweit servierte erst am Schluss den Anfang seines Buches, der bereits klarmacht, wer der Täter ist - der Vater Tiefenthalers hat Herrn Tiberius erschossen. "Ich wollte keinen Krimi schreiben." Dem Schriftsteller war daran gelegen, komplexe Figuren zu skizzieren und die Zuspitzung von Gedanken zu schildern. "Der Angst wohnt ein Automatismus bei." Irgendwann werde es Hysterie. "Dann fangen die Opfer an, in einer Angstwelt zu leben. Das ist die Tragik von echten Opfern."

Der preisgekrönte Reporter kennt seinen Romanstoff aus eigener Erfahrung. "Es gab einen Stalker in meinem Leben. Ich habe den Roman aber nicht aus therapeutischen Gründen geschrieben, ich war nicht traumatisiert. Ein Autor sucht immer nach Stoff. Im echten Leben ging das gegen meine damalige Frau."

In der munteren Diskussion wurde über Recht und den Rechtsstaat gesprochen. Und eine Zuhörerin meinte: "Die Figur des Tiefenthalers kommt bei mir als Feigling an. Diesen Mann hätte ich als Ersten aus dem Haus geworfen. Und dass er seinen Vater den Herrn Tiberius erschießen lässt, ist doch das Allerletzte." "Meine Position war: Tiefenthaler ist im Recht, sobald er Tiberius angreift, ist er im Unrecht", erwiderte Kurbjuweit. "Ich bin überzeugt, der Staat hat das Gewaltmonopol." Aber auch andere Frauen waren enttäuscht von Tiefenthalers Verhalten. Eine Zuhörerin sagte: "Ich habe beim Lesen Wut bekommen, dass er seine Frau nicht unterstützt."

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