Fall Anna Pflegevater hat riesige Erinnerungslücken

BONN/KÖNIGSWINTER · "Ich kann mich nicht erinnern." Dieser Satz fiel am Mittwoch im Prozess gegen die für das ermordete Pflegekind Anna zuständige Jugendamtsmitarbeiterin immer wieder. Denn Ralf W., der Pflegevater von Anna, offenbarte im Zeugenstand große Erinnerungslücken.

So große, dass Kammervorsitzender Hinrich de Vries dem 54-Jährigen schließlich vorhielt: "Ich habe ein Problem mit Ihrer Wahrheitsliebe." In dem Verfahren muss sich die Jugendamtsmitarbeiterin unter anderem wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen, Urkundenunterdrückung und Verwahrungsbruch verantworten.

Ralf W. wird gefesselt in den Saal gebracht. Er ist rechtskräftig zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen und wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung einer Schutzbefohlenen verurteilt.

Seit seinem eigenen Prozess, in dem seine Frau wegen des Mordes an Anna zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, hat der Mann Gewicht verloren. Und scheinbar auch viele Erinnerungen. Denn seine Zeugenaussage unterscheidet sich deutlich von dem, was er zunächst bei der Polizei erzählte. Bei der Haftrichterin nahm er die Schuld dann auf sich - so wie jüngst in einem Brief an die Staatsanwaltschaft.

Dieser ist Grundlage des Wiederaufnahmeverfahrens, das der Anwalt seiner Frau Petra W. betreibt. In dem Brief bezichtigt sich der 54-Jährige selbst, Anna - wenn auch nur ganz kurz - getunkt zu haben. Die Neunjährige sei ohne Fremdverschulden an ihrem Erbrochenen erstickt.

"Es ist möglich, dass ich das gesagt habe. Ich kann mich absolut nicht erinnern." Nicht einmal daran, welche Version nun die richtige ist. Auch an Misshandlungen Annas durch ihn oder seine Frau will er sich nicht erinnern können. An die Gespräche mit dem Jugendamt hat er nur vage Erinnerungen. Nur soviel weiß er noch: Er habe der Angeklagten gesagt, Anna müsse anders untergebracht werden. Und er war sich kurz vor Annas Tod sicher, dass Anna bald in ein Heim käme. Dann fällt ihm noch ein, dass man mit der Jugendamtsmitarbeiterin habe reden können.

An nahezu jedes Detail kann sich hingegen der Polizeibeamte erinnern, der damals Ralf W. vernahm. "Ich habe ihn auf die unterschiedlichen Aussagen bei der Polizei und der Haftrichterin aufmerksam gemacht und ihm gesagt, das Anna und auch ihre Mutter es verdient haben, dass er die Wahrheit sagt. Da ist er zusammengesackt und hat zu weinen begonnen."

Ralf W. habe ausgesagt, sich selbst bezichtigt zu haben, damit der Sohn weiter eine Mutter habe. Und dann habe er unter Tränen von sich aus beschrieben, wie seine Frau Anna unter Wasser drückte und die unterschiedlichen Methoden geschildert, mit denen Anna gequält wurde. "Es war eine der schlimmsten Vernehmungen in meinem Leben", so der erfahrene Kripobeamte. "Ich hatte gehofft, nie wieder darüber reden zu müssen." Er ist überzeugt, dass Ralf W. ihm die Wahrheit gesagt habe.

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