Meditation mit Tieren Menschen, die auf Schweine starren

Linz · Bei der Meditation mit Tieren versuchen die vom Leben gestressten Teilnehmer ihre innere Mitte zu finden.

 Ein Schwein, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht: Wer die Göttinger-Minipigs aus nächster Nähe beobachten möchte, sollte sich nicht ruckartig bewegen.

Ein Schwein, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht: Wer die Göttinger-Minipigs aus nächster Nähe beobachten möchte, sollte sich nicht ruckartig bewegen.

Foto: Frank Homann

Für einen kurzen Moment hebt Gunhild ihren Kopf. Hektisch schnüffelt sie mit ihrer Nase in alle Richtungen und schon wühlt sie wieder in der Erde, reißt ein paar Büschel Gras aus und kaut schmatzend darauf herum. Irgendwo grunzt es.

Dass Gunhild, Eberwein, Katinka und Friedewald bei jeder ihrer Bewegungen von etwa zehn menschlichen Augenpaaren verfolgt werden, scheint sie nicht zu interessieren. Und gerade das macht sie für ihre Beobachter so interessant. Eberwein, Katinka und ihre vier Artgenossen sind Schweine, Göttinger Minipig-Mischlinge um genau zu sein. Mittlerweile bekommen sie regelmäßig Besuch von Menschen, die Geld bezahlen, um sie aus nächster Nähe zu beobachten.

Meditation mit Tieren heißt das Angebot, mit dem sich das Ehepaar Andrea und Matthias Oppermann seit diesem Jahr an Personen wendet, die nach einem Weg suchen, zur Ruhe und zu sich zu kommen. Der Sozialpädagoge und Hypnotherapeut hat zusammen mit seiner Ehefrau vor drei Jahren das Forsthaus Reifstein in Kretzhaus übernommen. 2011 gründeten sie den Verein "Artis", dessen Ziel es ist, die Beziehung zwischen Mensch und Natur zu fördern.

"Unter 'Meditation' stellt man sich oft eine strengere Form vor, bei der man Stunden im Lotussitz verbringen muss", sagt Matthias Oppermann. "Was wir anbieten, ist nicht so eine Hardliner-Meditation."

Bevor es losgeht, erklärt er den Teilnehmern, worauf sie achten sollten. Oppermann: "Es geht darum, dass ihr die Gedanken, die euch kommen, bewusst wahrnehmt. Bei der Meditation stelle ich im Prinzip einfach nur fest: 'Ach, das passiert gerade'."

Eine der rund zehn Ruhesuchenden, die sich an diesem Sonntagvormittag am Waldrand hinter dem Forsthaus Reifstein in Kretzhaus eingefunden haben, ist Monika. Die 48-Jährige ist zum ersten Mal dabei. Mit einem Stuhl sucht sie sich einen Platz am Rande des Geheges und beobachtet Gunhild und die anderen, wie sie ihre hängenden Bäuche über das Gras ziehen. "Ich habe eine schwere Zeit hinter mir und musste mit einigen Dingen klarkommen", erzählt sie.

Zur Zeit sei sie krankgeschrieben, stets von kreisenden Gedanken und Grübeln geplagt. "Ich hoffe, dass meine Gedanken hier ein wenig zur Ruhe kommen."

Einfach mal vom Alltag "abschalten" - das ist schon längst nicht mehr "einfach". Die Reservate der Ruhe schrumpfen. Höhere Arbeitsbelastung, Entgrenzung der Arbeitszeit, ständige Erreichbarkeit per Smartphone. Fast jeder Zweite findet, dass der Stress im Arbeitsalltag zugenommen habe. Das stellte die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in ihrem "Stressreport Deutschland 2012" fest.

Jeder Vierte lässt seine gesetzlich vorgeschriebene Pause ausfallen. Wer dem Hamsterrad wirklich einmal entkommen möchte, muss - so scheint es - aktiv etwas dafür tun. Die Krankenkassen verzeichneten für das Jahr 2010 398 090 Teilnahmen an geförderten Individualangeboten zur Stressbewältigung und Entspannung, wie aus den Präventionsberichten des Verbandes der Krankenkassen in Deutschland hervorgeht.

2012 ging diese Zahl zwar auf 318 667 zurück, doch im Vergleich zu 2005 (182 342) hat die Nachfrage nach Angeboten wie progressiver Muskelentspannung oder autogenem Training dennoch um rund 75 Prozent zugenommen. Hinzu kommen betriebliche Präventionsprogramme zum Stressmanagement, die von den Kassen gefördert werden. Hier ist seit 2008 ein Zuwachs von rund 70 Prozent (bis 2012) zu verzeichnen.

Und die Möglichkeiten, dem Stress zu begegnen und Entspannung zu finden, werden zunehmend vielfältiger - ob Hatha Yoga, Qigong, Autogenes Training, Achtsamkeitsübungen oder eben Meditation mit Tieren.

An Interessenten mangelt es nicht. "Seitdem das Angebot läuft, sind wir immer ausgebucht", berichtet Oppermann. Dass sich Menschen versammeln, um mit Hilfe von Tieren zu meditieren, verwundert Rainer Brämer nicht. Bereits der reine Aufenthalt in der Natur könne sich positiv auf unser Wohlbefinden auswirken, erklärt der Marburger Natursoziologe. "In der Natur stimmt das Tempo, mit dem unsere Wahrnehmung arbeitet.

Wenn wir Tiere beobachten, bieten sich uns ruhige Vorgänge, die wir gut verarbeiten können." Der Grund dafür liege in unserer Entwicklungsgeschichte. "Wir empfinden heute eine Umgebung als angenehm, in der sich bereits unsere Vorfahren wohl gefühlt haben", so Brämer. Dazu gehörte zum Beispiel die Nähe zu Gewässern oder eben auch zu Tieren.

Auch Waldränder empfänden wir als angenehm und beruhigend. "Sie dienten uns einst als schnelle Rückzugsmöglichkeit und boten Sicherheit", erklärt der Natursoziologe.

Am Waldrand in Kretzhaus schubbelt sich ein Schwein völlig ungeniert an einem Baumstamm. Das kratzige Geräusch, das sein borstiges Feld an der Rinde erzeugt, schallt über die Wiese. Ein paar Teilnehmer müssen lächeln. Ein anderes Tier wühlt neugierig in der Erde. Manchmal rempelt ein Schwein seinen Nachbarn an, grunzt kurz, ohne übermäßig Aggression zu zeigen, nur um seine Nase umgehend wieder in die Erde zu stecken.

Alles, was zehn oder zwanzig Sekunden zurück liegt, ist für diese Tiere ohne Bedeutung. "Die Tiere geben einem das Gefühl, dass alles gut ist, wie es ist. Sie leben ausschließlich im Hier und Jetzt", wird eine Teilnehmerin nachher sagen.

Gegen Ende der Meditation steht Monika vorsichtig auf und geht langsam auf die Schweine zu. Sie reist ein Büschel Gras aus, das ihr die Tiere bereitwillig aus der Hand fressen. Die Freude dabei ist ihr anzusehen. Nach einer Dreiviertelstunde beendet Oppermann die Meditation und bittet die Teilnehmer, sich zu einer kurzen Abschlussrunde zusammenzufinden.

"Mir fiel es zu Beginn schwer, mich ausschließlich auf die Tiere zu konzentrieren und ich habe mich lange mit meinen eigenen Themen beschäftigt", sagt Monika. Dennoch möchte sie auf jeden Fall wiederkommen. "Ich hoffe, hier eine gedankliche Oase zu finden."

Meditation mit Tieren

Das nächste Treffen zur Meditation mit Tieren des Vereins "Artis" am Forsthaus Reifstein in Kretzhaus, Asbacher Straße 85,findet am Sonntag, 5. Oktober statt. Voraussichtlich wird es vor der Winterpause der letzte Termin in diesem Jahr sein. Die Teilnahmegebühr beträgt pro Person zehn Euro. Feste Schuhe und wetterentsprechende Kleidung werden empfohlen. Weitere Informationen gibt es unter www.artis-ev.de. Da die Zahl der Teilnehmer begrenzt ist, wird um eine vorherige Anmeldung mit Hilfe des Online-Formulars auf der Internetseite des Vereins oder unter der Telefonnummer 0 26 45/9 77 89 21 gebeten.

Neben dem Meditationsangebot widmet sich der von Andrea und Matthias Oppermann gegründete Tierschutzverein "Artis" dem Freikauf, der Rettung und der Unterbringung von Tötung bedrohter Tiere. Zu diesem Zweck sammelt der Verein Spenden und bietet Tierpatenschaften an. Nach eigener Auskunft möchte "Artis" mit dem Forsthaus Reifstein eine Begegnungsstätte (keinen Streichelzoo) bieten, in der Menschen das Wesen der Tiere erfahren können und gleichzeitig sich selbst mit Hilfe der Tiere begegnen können.

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