Im Refugium des Ruhelosen Zu Besuch bei Günter Wallraff

Unkel · Als junger Pazifist wurde Günter Wallraff von Psychiatern für verrückt erklärt und eingesperrt, als Reporter denunziert und observiert. Da hätte man doch mit 75 allen Grund, ein verhärmter Zyniker und Misanthrop zu sein. Von wegen!

 Günter Wallraff vor dem Haus im bergischen Odenthal-Blecher, in dem er nach der Evakuierung als Kind wohnte.

Günter Wallraff vor dem Haus im bergischen Odenthal-Blecher, in dem er nach der Evakuierung als Kind wohnte.

Foto: picture alliance / Henning Kaise

„Man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren...“, so schreibt Günter Wallraff im Vorwort seines Buches „Ganz unten“ (1985).

Die 1786 gegründete Schwedische Akademie ist vor allem dafür bekannt, dass sie alljährlich den Literaturnobelpreisträger auswählt. Die Akademie ist aber auch Gralshüter der schwedischen Sprache und gibt ein mit unserem Duden vergleichbares Wörterbuch heraus. Wenn denn mal ein ausländisches Lehnwort in dieses Wörterbuch Eingang findet, dann muss es sich schon tief in den Sprachgebrauch eingegraben haben. „Wallraffing“ zum Beispiel. Damit beschreiben die Schweden eine spezielle journalistische Arbeitsmethode.

„Espresso?“ Der Urheber des schwedischen Lehnworts klappert nebenan in der Küche des Fronhofs in Unkel. „Zucker? Ist aber nur Rohrzucker da.“ Während der Espresso-Automat vor sich hin brummt, pfeift der Hausherr fröhlich vor sich hin. „Dabei habe ich diese Arbeitsweise ja gar nicht erfunden. Lesen Sie mal Upton Sinclairs 1906 erschienenes Buch über die Schlachthöfe in Chicago. Präsident Theodore Roosevelt nannte Sinclair einen Muckraker, einen Nestbeschmutzer, seitdem ein Ehrentitel im amerikanischen Journalismus.“ Bester Laune, hellwach, neugierig, schlank, fit wie ein Turnschuh. Ein Mensch, der die Menschen liebt. So möchte man später auch mal sein.

„Kaum ein Journalist hat so viel bewegt wie er“, schrieb Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung zu Wallraffs 70. Geburtstag. Jetzt geht er auf die 76 zu. Er müsste sich nichts mehr beweisen. Aber er will noch einiges bewegen. Schreckt Sie der Gedanke an den Tod? „Überhaupt nicht. Der Tod hat für mich keinen Schrecken; nur das Siechtum. Seit meiner Jugend ist mir der Tod ein treuer Kumpel, auf ihn ist Verlass.“ Sind Sie zufrieden mit sich, dem Leben, dem Erreichten? „Schwierige Frage. Ich bin ein Getriebener. Ich empfinde eher ein Ungenügen. Was ich noch alles hätte machen müssen und können. Aber ich nutze die mir noch verbleibende Zeit, ich habe noch einiges vor.“

Schon als Schüler beginnt Wallraff mit dem Schreiben

Die Kindheit des am 1. Oktober 1942 in Burscheid Geborenen verlief nicht eben stromlinienförmig. Krieg, ausgebombt, evakuiert. Als Günter fünf ist, erkrankt der Vater schwer an den Folgen der Arbeit in der Lackiererei im Kölner Ford-Werk, die Mutter muss nun für den Unterhalt der Familie sorgen, der evangelisch getaufte Junge kommt vorübergehend in ein katholisches Waisenhaus. „Man nahm mir meine Kleidung ab und steckte mich in Anstaltskleider; es fühlte sich an, als würde mir meine Identität genommen.“ Günter Wallraff ist 16, als der Vater stirbt. Keine Frage, dass er das Gymnasium verlässt, um der Mutter nicht länger auf der Tasche zu liegen. Er absolviert eine Lehre als Buchhändler. Schon als Schüler beginnt er mit dem Schreiben – keine Reportagen aus der Arbeitswelt, sondern Gedichte, veröffentlicht in der Flugschrift für Lyrik.

1963 wird der junge Buchhändler zur Bundeswehr eingezogen, sein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung wird abgelehnt. Der überzeugte Pazifist weigert sich trotzdem beharrlich, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Während dieser Zeit führt er „auch als eine Art Überlebensstrategie“ Tagebuch und will es in der Zeitschrift Twen veröffentlichen. Die Bundeswehr drängt darauf, dies zu unterlassen. Wallraff lehnt ab, daraufhin wird er in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Bundeswehrkrankenhauses in Koblenz eingeliefert – und schließlich mit dem Etikett „abnorme Persönlichkeit, für Frieden und Krieg untauglich“ nach zehn Monaten vorzeitig entlassen.

Das Bundeswehr-Tagebuch schickt er an Heinrich Böll, der ihn zur Veröffentlichung ermutigt und später das Vorwort für die Buchversion schreibt. Böll wird sein Mentor, sein väterlicher Freund. 1985 trägt Wallraff mit Günter Grass und Lew Kopelew und anderen Bölls Sarg zum Grab auf dem Friedhof in Bornheim-Merten.

1965 wird die erste Reportage gedruckt

Wallraff kehrt nicht mehr in seinen Beruf als Buchhändler zurück, sondern trampt ein halbes Jahr durch Skandinavien, lebt in Obdachlosenheimen und fängt an, in Fabriken zu arbeiten. Um davon zu leben, aber auch, um darüber zu veröffentlichen. Er beobachtet, schreibt das Erlebte auf. 1965 druckt die Gewerkschaftszeitung Metall seine erste Reportage aus der Arbeitswelt.

„Ein Refugium, das ich viel zu selten aufsuche“, beschreibt Günter Wallraff den Fronhof in Unkel. Der Rückzugsort eines Ruhelosen. Seine dritte Frau Barbara verbringt hier gern Zeit, ebenso seine fünf Töchter. „Wahlverwandtschaft“ wohnt hier unter einem Dach, zum Beispiel die Grafikerin Angelika Böll, eine Verwandte von Heinrich Böll. Der Fronhof am Rhein, 1075 erbaut, war einst Teil der mittelalterlichen Stadtmauer. Als er Wallraffs Familie zum Kauf angeboten wurde, war er ihnen eigentlich viel zu groß (und außerdem stark sanierungsbedürftig).

Doch als sie mitbekamen, dass ein Spekulant das historische Anwesen in fünf Eigentumswohnungen zerschlagen wollte, griffen sie zu, um es zu retten. Auch der Turm ist wieder begehbar. Die Wendeltreppe stand früher als Dekor im Theater im Bauturm an der Aachener Straße in Köln. Sie wurde nicht mehr benötigt, Wallraff erwarb sie gegen eine Spende. „Ich bin ein Luftmensch. Meine Frau ist bodenständiger und kümmert sich um den Garten.“

Der permanente Kampf gegen Unrecht und Ungerechtigkeit bestimmt sein Leben – beruflich wie privat. Er ist in keiner Partei Mitglied und bezeichnet sich als Wechselwähler. „Auch mit AfD-Wählern muss man reden“, sagt er. „Das sind nicht alle Rassisten und Nazis.“ Wallraff ergriff damals Partei für Christian Wulff: „Gegen die kollektive Medienhetze, bei der ein Meutejournalismus entstand, dessen zur Hysterie gesteigerte Aufregung bis hin zur Menschenjagd eskalierte. Und Martin Schulz hat mein tiefstes Mitempfinden. Ein Mann, der für eine Sache brannte und am Ende verheizt wurde.“

Kein weißer Fleck in Wallraffs Kalender

Immer wieder klingelt sein Handy. „Entschuldigung, ich muss da mal kurz drangehen.“ Während des Telefonats klappt er den Terminkalender auf, die Woche ist schon übersät mit Eintragungen, von Montag bis Sonntag, von morgens bis abends. Da ist kein weißer Fleck mehr. Die Azubis eines Pflegeheims wollen ihn besuchen und von ihren Erlebnissen erzählen, dafür muss noch Platz sein, unbedingt, dafür findet er eine Lücke im Kalender. „Noch einen Espresso?“ Die Maschine brummt, der Hausherr pfeift wieder fröhlich.

Vor dem Flug nach Athen macht der 31-Jährige vorsorglich sein Testament. Am 10. Mai 1974 kettet sich Günter Wallraff an einen Lichtmast auf dem Syntagma-Platz und verteilt Flugblätter, um gegen das Unrecht der griechischen Militärdiktatur zu protestieren. Geheimpolizisten schlagen ihn noch auf dem Platz zusammen, bringen ihn ins Hauptquartier, foltern ihn. Erst als er seine Identität als deutscher Journalist preisgibt, stellen sie die Folterungen ein. Wallraff wird zu 14 Monaten Einzelhaft im berüchtigten Gefängnis Korydallos verurteilt, aber nach dem Sturz der Militärjunta am 26. Juli 1974 freigelassen.

Einen weiteren Militärputsch in Europa kann Wallraff zwei Jahre später verhindern. Am 25. März 1976 trifft er sich als Waffenhändler getarnt in Düsseldorf mit dem portugiesischen General António de Spínola – und macht dessen Putschpläne am 7. April bei einer Pressekonferenz in der Bundeshauptstadt Bonn publik. Spínola wird zwei Tage später aus der Schweiz, wo er sich unter falschem Namen aufhält, ausgewiesen und setzt sich nach Brasilien ab.

Das spektakuläre Aufdecken von Missständen als Undercover-Reporter ist die eine Sache. Medienwirksam, damit sich was ändert. Der stille, private Einsatz für Verfemte und Verfolgte dieser Welt eine andere. So wie sein Mentor Heinrich Böll in Ungnade gefallenen Schriftstellern wie Alexander Solchenizyn oder Lew Kopelew beistand und Unterschlupf gewährte, nahm Wallraff immer wieder Menschen in Not bei sich auf – Obdachlose, Regimekritiker aus aller Welt, Künstler wie den nach seinem Köln-Konzert 1976 ausgebürgerten Wolf Biermann.

Hochzeitsfeier mit 100 Asylbewerbern

Wallraff spendete Honorare, gründete Stiftungen, finanzierte den Bau einer Mädchenschule in Afghanistan und vieles mehr. Zu seiner Hochzeitsfeier in Köln-Ehrenfeld lud der Bräutigam die Bewohner des benachbarten Asylbewerberheims ein, rund 100 Menschen. „Das schönste Fest meines Lebens.“ Und als der Schriftsteller Salman Rushdie seines Lebens nicht mehr sicher ist, seit der iranische Ayatollah Chomeini ein Kopfgeld in Höhe von einer Million US-Dollar ausgesetzt und die Muslime in aller Welt zur Vollstreckung des Todesurteils aufgerufen hat, ahnt niemand, wo der Gejagte 1993 zu Besuch ist: im Fronhof in Unkel.

Auf Einladung von Wallraff, der auf eigene Kosten eine Privatmaschine charterte. Nicht mal der Pilot kannte die Identität des Passagiers, erst während des Flugs von London nach Köln wurde das Ziel geändert, die Maschine landete auf einem Flugplatz im Westerwald. Ayatollah Chomeini prophezeite, Rushdie werde sich „wie eine Ratte nicht mehr aus seinem Loch heraustrauen“. Die Prophezeiung ging nicht in Erfüllung.

„Man kann nur dann gegen die Fundamentalisten triumphieren, wenn man keine Angst zeigt und sie auch noch der Lächerlichkeit preisgibt“, sagt Wallraff. Kennt er keine Angst? „Und ob. Aber durch das bewusste Reingehen in angstbesetzte Situationen wird man angstfreier.“ Als der begeisterte Kajakfahrer den Fronhof am Rheinufer bezog, ist er auf die andere Seite und wieder zurück geschwommen, um die Angst vor dem mächtigen Strom zu verlieren. „Man wird beim Durchqueren 1,2 Kilometer abgetrieben. Ich bin kein perfekter Schwimmer, aber ausdauernd“, sagt der einstige Marathonläufer (Bestzeit: 2:50). „Oft war mein Training ein Wettkampf gegen mich selbst.“

Die Lauferei hat er heute reduziert und ist insgesamt weniger leistungs-, mehr lustbetont unterwegs, aber mit dem Rennrad von Köln nach Unkel oder mit dem Kajak von Unkel nach Köln, das klappt noch prima. Die Scheu vor dem Rhein verlor sich so weit, dass er beim Jahrhunderthochwasser 1993 bei Eiseskälte mit dem Kajak gen Köln startete – und ihn die Wasserschutzpolizei in Königswinter stoppte. „Was für ein Glück. Mir wurde erst später klar, wie leichtsinnig das war. 40 Mark Strafe musste ich bezahlen.“

Wallraffs späte Rache am Springer-Verlag

In Chefetagen und Personalabteilungen großer Unternehmen hingen längst Wallraff-Steckbriefe, als er 1977 als „Hans Esser“ für vier Monate in der Redaktion der Bild in Hannover anheuert. Aus dem Erlebten entsteht „Der Aufmacher“. Der Springer-Verlag zerrt ihn bis vor den Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht, seine Wohnung wird verwanzt, sein Telefon abgehört. 2016 rächt sich Wallraff, indem er für einen guten Zweck Bild-Herausgeber Kai Diekmann vernichtend mit 4:1 schlägt – im Tischtennis. Zeugen munkeln, der klare Sieger habe dem 22 Jahre Jüngeren einen Satz geschenkt. Stimmt das? Wallraff grinst und schweigt.

Für „Ganz unten“ recherchiert er zwei Jahre – als türkischer „Fremdarbeiter“ Ali Levent. Verkaufte Auflage seit 1985: mehr als fünf Millionen Exemplare. „Als Ali habe ich mit meinen türkischen Kollegen in Deutschland Ausbeutung, Demütigung und Rassismus erlebt und erlitten. Das ist über dreißig Jahre her – und trotzdem ist Ali noch immer ein Teil von mir und ich werde immer noch von vielen hier lebenden türkischen Arbeitsimmigranten als einer der ihren angesehen. Manche sagten mir, mit Ganz unten hätten sie damals Deutsch gelernt. So bin ich es heute auch den türkischen Einwandererfamilien schuldig, mit aller Deutlichkeit Position gegenüber der Politik Erdogans zu beziehen.“

Wallraff setzt sich für die Freilassung inhaftierter Erdogan-Gegner ein. „Derzeit werden in der Türkei 80 weitere Gefängnisse gebaut. Ich war nicht für die Jamaika-Koalition. Aber sie hätte Sinn gemacht, wenn Cem Özdemir Außenminister geworden wäre. Er ist der einzige prominente deutsche Politiker, der Erdogan in aller Deutlichkeit die Stirn bietet.“

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