Zugunglück in Brühl vor 20 Jahren „Einige Bilder gehen mir nicht mehr aus dem Kopf“

Brühl · Am Bahnhof in Brühl entgleiste vor 20 Jahren ein Schnellzug. Das Unglück hatte verheerende Folgen: Neun Menschen starben, fast 150 wurden verletzt. Zwei Zeitzeugen erinnern sich an eine Nacht, die sie nie vergessen werden.

 Blick auf den Ort des Unglücks: Am 6. Februar 2000 springt in Brühl ein Nachtzug aus den Schienen.

Blick auf den Ort des Unglücks: Am 6. Februar 2000 springt in Brühl ein Nachtzug aus den Schienen.

Foto: picture-alliance / dpa/Gero_Brloer

Wenn Ingo Birk die Bilder des entgleisten Schnellzugs sieht, ist die Erinnerung sofort wieder da. Die Erinnerung an die schrecklichen Bilder, die er in dieser Nacht gesehen hatte und die bedrückende Atmosphäre, die vor 20 Jahren am Brühler Bahnhof herrschte. Es war kurz nach Mitternacht, als der Nachtexpress D 203 in Brühl aus den Schienen sprang – mit verheerenden Folgen. Das Unglück kostete neun Fahrgäste das Leben, fast 150 Menschen wurden verletzt. Bis heute gilt es als eines der schwersten Zugunglücke der deutschen Geschichte.

Birk war damals 25 Jahre alt und saß in dieser Nacht als Rettungsassistent in jenem Einsatzfahrzeug, das als erstes zum Unglücksort ausrückte. Zu dem Zeitpunkt, als der Notruf in der Feuerwache in Brühl einging, lag Birk auf der Wache schon im Bett. In der Durchsage fiel zwar das Schlagwort „entgleister Zug“ – zu diesem Zeitpunkt ahnte aber niemand, welches Ausmaß dieses Unglück hatte. Erst als seine Kollegen und er den Bahnsteig erreichten und die Waggons sahen, die aufgetürmt vor ihnen lagen, sei ihnen die Schwere des Unglücks bewusst geworden, erzählt er.

Zugunglück am Brühler Bahnhof vor 20 Jahren
21 Bilder

Zugunglück am Brühler Bahnhof vor 20 Jahren

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Wegen Arbeiten an einer Weiche wechselte der Nachtzug, der in Richtung Basel unterwegs war, am 6. Februar 2000 am Brühler Bahnhof auf ein anderes Gleis. Der Zug sollte den Bahnhof entlang des äußersten linken Gleises passieren. Statt der angemessenen 40 Stundenkilometer fuhr der Lokführer mit Tempo 120 über die Weiche. Die Angaben in seinen Fahrplanunterlagen und an der Strecke widersprachen sich. Die Lok und vier der insgesamt neun Wagen lösten sich von der Schiene und schossen eine Böschung hinunter. Der Zug kam erst zum Stehen, nachdem die Lok die Wand eines Wohnhauses durchbrochen hatte. Zwei andere Wagen verkeilten sich und wurden auf dem Bahnsteig ineinander geschoben. Fast wie durch ein Wunder blieben die Bewohner des beschädigten Hauses und der Lokführer unverletzt.

Beim Eintreffen am Bahnhof seien ihm und seinen Kollegen bereits Reisende entgegengekommen, die teils Blut an den Händen oder im Gesicht hatten, erinnert sich Birk. Schreie habe er nicht vernommen. Es sei ruhig gewesen und schwierig, die Lage in der Dunkelheit zu überblicken. „Das war eine ganz skurrile Atmosphäre“, sagt er. Ganz ähnlich hat es auch Wolfgang Henry wahrgenommen, der am frühen Morgen des 6. Februar als Fotograf für den General-Anzeiger vor Ort war. „Es herrschte eine seltsame Stille“, erinnert er sich. Auch an den Tagen nach dem Unglück, an denen er immer wieder zum Bahnhof fuhr und Bilder machte, habe sich daran nichts geändert.

 Ingo Birk ist einer der Helfer, die in der Nacht des Zugunglücks als Erste vor Ort waren.

Ingo Birk ist einer der Helfer, die in der Nacht des Zugunglücks als Erste vor Ort waren.

Foto: Leandra Kubiak

Viele Menschen wurden bei dem Unglück verletzt, teils lebensbedrohlich, einige im Wrack eingeklemmt oder gar unter den Waggons begraben. Das Dramatische für die Rettungskräfte: Sie konnten nicht allen Verletzten sofort helfen. Viel zu unübersichtlich war die Lage, es fehlte zu Beginn an Ausrüstung und personeller Verstärkung, um alle Verletzten bergen zu können. Bei der Vielzahl der Verwundeten musste priorisiert werden: Nicht jeder konnte sofort versorgt werden.

Eine Situation hat Ingo Birk besonders geprägt: In einem der Wagen nahmen er und seine Kollegen Kontakt zu den Verletzten auf. Ein Mann sei so stark eingeklemmt gewesen, dass sie ihm nicht ohne weiteres helfen konnten. Immer wieder habe er den Mann angesprochen und ihm Mut gemacht. Der Mann reagierte und sprach mit Birk – bis es nach einigen Minuten zu spät war und keine Reaktion mehr zurückkam. „Wir konnten nicht so helfen, wie wir das gerne getan hätten“, sagt der 45-Jährige.

Etwas anders machen würde Birk heute nicht. Jedoch gebe es inzwischen für das ganze Bundesland ein einheitliches Konzept dazu, wie bei einem Einsatz mit einer Vielzahl Verletzter vorzugehen ist. Vor 20 Jahren sei das weniger ausgefeilt gewesen.

Am Morgen nach dem Unglück fuhr Birk nicht wie üblich nach Hause. Er fuhr zu seinen Eltern, suchte Trost. Auch Gespräche mit Kollegen hätten ihm geholfen, die Situation zu verarbeiten, sagt er heute. In seiner nächsten Schicht kehrte Birk trotzdem zum Bahnhof zurück. Die Folgen der Katastrophe bei Tageslicht zu sehen half ihm, die Situation besser einzuordnen.

 Fotograf Wolfgang Henry machte im Jahr 2000 Fotos vom Unglücksort.

Fotograf Wolfgang Henry machte im Jahr 2000 Fotos vom Unglücksort.

Foto: Leandra Kubiak

An den für ihn schlimmsten Moment kann sich Wolfgang Henry noch gut erinnern. Als Fotograf durfte er vor Beginn der Trauerfeier, an der zahlreiche Politiker teilnahmen, Bilder von diesen in der Kirche machen. Direkt daneben hätten weinende Angehörige der Verstorbenen gesessen. „In diesem Moment habe ich meinen Beruf gehasst“, sagt er. Auch in der Zeit nach dem Unglück sei es für ihn noch sehr bedrückend gewesen, am Brühler Bahnhof vorbeizukommen.

Die Deutsche Bahn zog damals Konsequenzen aus dem Unglück: Die zugelassene Höchstgeschwindigkeit wird seitdem technisch überwacht. Bei Überschreitung wird ein Zug automatisch abgebremst. Zudem wird das Personal seither intensiver fortgebildet. Das Verfahren gegen den Lokführer und drei weitere Bahnmitarbeiter wurde im Jahr 2001 gegen Zahlung von Geldbußen eingestellt.

Für Ingo Birk, heute stellvertretender Leiter der Feuerwehr Brühl, bleibt das Zugunglück der wohl schwierigste Einsatz seiner Laufbahn. Inzwischen verblasse die Erinnerung an den Einsatz zwar immer mehr, sagt der 45-Jährige. „Aber es gibt Bilder, die nicht aus dem Kopf gehen.“ Heute ist der Bahnhof Brühl für ihn aber kein Ort, den er meidet. Er habe sich relativ schnell ganz bewusst wieder mit dem Ort konfrontiert.

Und letztendlich hatte der Einsatz auch einen Einfluss auf seine ganz persönliche Einstellung zum Leben: „Ich habe mich früher schnell über Kleinigkeiten geärgert. Heute weiß ich, dass es auf andere Dinge ankommt.“

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