Angriff auf Henritte Reker Angriff auf die Menschenwürde

Berlin · Rassistische Hetze gegen Politiker und Medien nimmt zu. Doch neu ist sie nicht, sagen Experten.

 Besonders häufig Zielscheibe von Hetze und Verunglimpfung: Grünen-Chef Cem Özdemir. FOTO: DPA

Besonders häufig Zielscheibe von Hetze und Verunglimpfung: Grünen-Chef Cem Özdemir. FOTO: DPA

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Was ist los mit der politischen Kultur in diesem Land? Diese Frage stellen sich viele am Tag nach dem versuchten Mordanschlag auf die parteilose Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker. Der 44-jährige Täter hatte für sich ja ausdrücklich politische Motive in Anspruch genommen, indem er am Tatort skandierte: "Ich mache das für euch."

Immer häufiger stößt man in diesen Wochen in der gesellschaftlichen Debatte auf skandalöse Exzesse. Nicht durchgehend sind sie strafbar, aber stets wird die Würde von Menschen verletzt. Im Internet findet immer wieder rassistische Hetze statt. Die Urheber scheuen sich nicht, in Foren von Tageszeitungen und in den sozialen Medien rassistische Hetzparolen von sich zu geben - vielfach unter Angabe ihres vollen Namens. Auch bei Demonstrationen gibt es immer wieder schlimme Entgleisungen. Dabei kommt dies nicht nur bei islamfeindlichen Veranstaltungen vor. Auch bei der Anti-TTIP-Demonstration am 10. Oktober in Berlin wurde eine Guillotine mit dem Schriftzug "Für Sigmar Gabriel" mitgeführt.

Ein Politiker, der seit Jahren besonders viel Hetze abbekommt, ist Grünen-Parteichef Cem Özdemir. Im Gespräch mit dieser Zeitung sagt er: "Das Phänomen ist nicht neu." Er habe viel Erfahrung damit, dass Menschen mit einer anderen politischen Meinung Grenzen verletzen: Er habe erst kürzlich wieder eine Mail erhalten, in der ihn jemand unter Angabe seines Vor- und Nachnamens wissen ließ: "Schade, dass du in Ankara nicht dabei warst." Gemeint war das Attentat in der türkischen Hauptstadt mit knapp 100 Todesopfern vor wenigen Tagen.

Özdemir ruft dazu auf, Konsequenzen für den politischen Betrieb zu ziehen. "Es muss stärker zum Ausdruck gebracht werden, dass wir es mit Wettbewerbern in der Demokratie zu tun haben, aber nicht mit Feinden." Diese Botschaft gelte es, für die Beteiligten in der Politik, aber auch in den Medien stärker in den Mittelpunkt zu rücken.

Der Grünen-Politiker mahnt: "Wir sind alle dafür verantwortlich, dass der Artikel eins des Grundgesetzes von der Würde des Menschen hoch gehalten und respektiert wird." Und weiter sagt Özdemir: "Unsere Demokratie bietet genügend Möglichkeiten, sich in der Debatte auszutoben, eine Guillotine bei einer Demonstration gehört sicherlich nicht dazu." Wer bei einer Demonstration einen Galgen oder eine Guillotine mitführt, die für einen Politiker bestimmt ist, spielt in widerwärtiger Weise auf die NS-Diktatur an: Die Nazis sprachen ihren politischen Gegnern die Würde ab, indem sie sie als "Volksverräter" bezeichneten, die den Tod am Galgen verdient hätten.

Zielscheibe der Verachtung sind in diesen Tagen immer wieder auch die Medien. Journalisten, die etwa in Kommentaren der Zuwanderung positive Seiten abgewinnen, werden regelrecht bombardiert mit hasserfüllten Mails teils widerlichen eindeutig rechtsradikalen Inhaltes.

Mit diesen Auswüchsen ist der Parteienforscher Timo Lochocki vom German Marshall Fund bestens vertraut. "In bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ist die grundlegende Verachtung der politischen Elite und der Medien- und Meinungsmacher schon seit langem eine Konstante."

Lochoki, der auch die extrem rechten Bewegungen in anderen europäischen Ländern im Blick hat, hält wenig davon, angesichts der jüngsten Exzesse im Zusammenhang mit der Debatte über Flüchtlinge von einer neuen Verrohung der politischen Kultur zu sprechen: "Dass Extremisten Politikern und Journalisten den Tod wünschen, weil sie eine abweichende Meinung haben, ist nichts Neues." Vielfach werde jetzt die Nachrichtenlage mit ständig höheren Zahlen ankommender Flüchtlinge genutzt, um mit den bekannten Parolen in die Öffentlichkeit zu kommen.

Lochoki warnt die Politiker davor, den Protest von Rechtsaußen überzubewerten: "Keine Frage: Die Integration dieser hohen Anzahl von Flüchtlingen stellt für Deutschland die größte Herausforderung seit der Wiedervereinigung, wenn nicht gar seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dar." Gewiss seien viele Menschen beunruhigt. Doch, so gibt Lochocki weiter zu bedenken: "Im November kamen noch 25 000 Menschen zur Pegida-Demonstration, heute sind es nur 9000." Und die rechtsextreme AfD habe in den Umfragen lediglich um zwei Prozentpunkte zugelegt. "Das zeigt doch, dass sich die meisten Menschen in diesem Land trotz der großen Herausforderungen immer noch sehr gut bei den etablierten Parteien und im politischen System der Bundesrepublik aufgehoben fühlen."

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