Gespräch am Wochenende mit Gunter Demnig „Man stolpert mit dem Kopf und dem Herzen“

Rheinbach · Acht Jahre sind seit dem ersten Vorstoß ins Land gezogen, in Rheinbach Stolpersteine zum Gedenken an die Opfer des Naziregimes verlegen zu können. Jetzt hat der Rat grünes Licht gegeben.

Mit 19 Ja- zu zehn Nein-Stimmen bei drei Enthaltungen hat sich der Rheinbacher Rat im dritten Anlauf nach 2008 und 2013 für die Verlegung von Stolpersteinen entschieden. Wie bewerten Sie dieses Ergebnis?

Gunter Demnig: Ich freue mich über jeden Ort, der dazukommt und jeden Stein, der dazukommt. Die Debatte gehört dazu. Es wäre ja komisch, wenn es jedem sofort gefallen würde – diese Art des Gedenkens und überhaupt das Gedenken.

Haben Sie die Debatten um die Verlegung in Rheinbach oder auch woanders verfolgt, oder treten Sie erst auf den Plan, wenn eine konkrete Anfrage vorliegt?

Demnig: Ich werde natürlich informiert. Und manchmal wundere ich mich, warum ich nicht eingeladen werde, um auch mal ein Statement abzugeben oder einen Vortrag zu halten, um zu erklären, was dahintersteht und warum ich persönlich dazu gekommen bin. Ich habe weder Täter noch Opfer in der Familie. Ich könnte sagen: Ich habe die Gnade der späten Geburt. Aber bei dem ganzen Projekt kommt so viel Freude zurück. Vor allem Schüler wollen wissen: Wie konnte so etwas im Land der Dichter und Denker überhaupt passieren? Oder es sprechen mich Angehörige an, die etwas über ihre Großeltern und Urgroßeltern wissen wollen.

Die Ablehner von Stolpersteinen in Rheinbach argumentierten, dass man Hausbesitzer nicht zwingen dürfe, Gedenksteine im Bürgersteig vor deren Gut und Boden zu installieren. Außerdem könnte ein Bezug hergestellt werden, dass der jetzige Besitzer, oder dessen Familie, vom Schicksal der jüdischen Vorbesitzer profitiert haben könnte.

Demnig: Es sind drei Generationen vergangen. Dieses Argument ist auch in München mit ein Grund für die Ablehnung. Es gibt einige, die keine Steine vor ihrer Villa haben möchten. Da könnten ja einige Leute auf Gedanken kommen... Aber mit dieser Vergangenheit müssen wir leben – jeder von uns. Aber es wirft doch kein schlechtes Licht auf die jetzigen Besitzer. Die Stolpersteine sind zum Nachdenken da. Die schönste Definition hat mal ein Hauptschüler gefunden, der von einem Fernsehreporter gefragt wurde, ob Stolpersteine nicht gefährlich seien, weil man beim Stolpern hinfallen könne. Der Junge sagte: Nein, man fällt nicht hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.

Das Kunstprojekt Stolpersteine kann mit Fug und Recht als so etwas wie Ihre Lebensaufgabe angesehen werden. Rund 60 000 Stolpersteine sind bereits verlegt. Bei bis zu 6,3 Millionen ermordeter Juden durch das Naziregime wartet allerdings noch ein gerütteltes Maß an Arbeit. Dennoch legen Sie Wert darauf, dass jeder Stein einzeln verlegt wird...

Demnig: Ja! 95 Prozent der Steine habe ich verlegt. Es gibt aber Helfer. Zum Beispiel gibt es in Bielefeld eine Berufsschulklasse – für Pflasterer. Aber die lernen das im Unterricht, die wissen, was sie machen. Als ich anfing, war es für mich als Künstler eher ein konzeptionelles Kunstwerk. Ich habe eigentlich nie daran gedacht, es wirklich zu machen. Die Idee ist, die Steine überall dorthin zu bringen, wo die deutschen Nazis ihr Unwesen getrieben haben. In Norwegen zum Beispiel müssten es 927 Steine sein. 400 haben wir schon und sind entschlossen, alle zu machen. Das werden wir auch schaffen. Dafür werden wir noch zehn Jahre brauchen.

Sie haben ja bereits Vorsorge getroffen...

Demnig: Wir haben für alle Fälle eine Stiftung ins Leben gerufen – die Stiftung „Spuren Gunter Demnig“. Wir legen Spuren, um die jungen Leute für das Thema zu bekommen. Wenn diese lesen: Es waren allein sechs Millionen jüdische Opfer und noch mal sechs, wahrscheinlich acht Millionen Menschen, die aus anderen Gründen ermordet worden sind – das ist eine abstrakte Größe. Und gerade in so kleinen Orten wie Rheinbach oder Brühl kommen die Jugendlichen schnell ins Grübeln und sehen: Das waren unsere Nachbarn und wir würden mit deren Enkelkinder in die Schule gehen. In dem Moment ist es keine abstrakte Größe mehr.

Die Rheinbacher Bürgerinitiative würde es freuen, wenn noch in diesem Jahr erste Stolpersteine verlegt werden – nach so langer Zeit des Wartens. Welche Chancen sehen Sie, wenn Ihre Internetseite Termine ab Juni 2017 in Aussicht stellt?

Demnig: Der 21. Dezember. Da bin ich in Bonn, und danach habe ich Luft (blättert nach). Ja, kurz vor Weihnachten. Ich bin zuerst in Bonn und komme nach Rheinbach rüber – um die Ecke. Es werden drei Stellen sein.

Sie kommen viel herum, zuletzt in der Slowakei, Tschechien und Ungarn. Wie begegnen Ihnen die Menschen außerhalb Deutschlands? Anders als hierzulande?

Demnig: Positiv. Ich habe natürlich auch nur mit Menschen zu tun, die das wollen. Ich habe keine Aggressionen erlebt.

Wir erleben momentan ein Europa, in dem wegen der Flüchtlingssituation Rechtspopulisten enormen Zulauf genießen. Wie erleben Sie unser Land derzeit auf Ihren Reisen – insbesondere in Ostdeutschland?

Demnig: In Brühl sagten die Geschäftsleute: Wir haben Angst, dass Neonazis kommen könnten und Geschäfte und Häuser mit Hakenkreuzen beschmieren oder Fenster einwerfen. Das ist nirgendwo passiert. Wenn überhaupt, dann richtet sich die Aggression immer gegen die Stolpersteine selbst – beschmiert oder rausgerissen. Aber: Es waren 400 von 60 000, die rausgerissen wurden. Wenn es passiert, wird sofort geputzt und unser Bildhauer Michael Friedrichs-Friedländer macht 'ne Extraschicht und die werden so schnell wie möglich ersetzt. In Halle an der Saale waren mal acht Steine weg. Daraufhin haben die Organisatoren ein Benefizkonzert auf die Beine gestellt und hatten hinterher das Geld für 26 Steine (lacht). Das war ein Schuss nach hinten. Ich erlebe momentan unser Land nicht anders als sonst.

Was war die bislang weiteste Reise, die Sie mit Stolpersteinen im Gepäck unternommen haben?

Demnig: Nach Südkorea. Das waren dann natürlich nicht Opfer der Nazis. Es waren Opfer der Japaner, und die waren mit den Nazis verbündet. In Europa das Weiteste war Orjol, südlich von Moskau.

Heutzutage sollte ja jedes Produkt auch digital vorliegen, um vor allem bei jungen Leuten anzukommen – Musik, Bücher, Zeitungsartikel. Können Sie sich vorstellen, dass es eine digitale Variante der Stolpersteine geben könnte?

Demnig: Wir sind gerade dabei, einen großen Blog zu machen, auf dem man alles abrufen kann – alle Materialien, die zu den jeweiligen Orten gesammelt wurden. Es gibt auch Apps, mit denen man wirklich über die Steine stolpert.

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