Experten trainieren für die Weltmeisterschaft

In der Akademie in Bad Neuenahr-Ahrweiler bereiten sich die Einsatzstäbe aller WM-Städte auf mögliche Unglücke und Anschläge vor - Berliner müssen einen Brand in der U-Bahn meistern

  Die Zentrale:  Realitätsnah werden die Übenden mit Szenarien konfrontiert. Hektische, aber kontrollierte Betriebsamkeit kommt auf. Fotos: Vollrath

Die Zentrale: Realitätsnah werden die Übenden mit Szenarien konfrontiert. Hektische, aber kontrollierte Betriebsamkeit kommt auf. Fotos: Vollrath

Bad Neuenahr-Ahrweiler. Der Countdown zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 läuft unaufhaltsam. In 228 Tagen ertönt in der Münchner Arena der Anpfiff zum Eröffnungsspiel des größten Ereignisses in der Sportwelt. Unter dem Motto "Die Welt zu Gast bei Freunden" erwartet Deutschland weit über eine Million Fußballfans, die vier Wochen lang ihr Team und sich selbst feiern wollen.

Damit dieses internationale Freudenfest durch nichts getrübt wird, wollen die Verantwortlichen nichts dem Zufall überlassen. Insbesondere vor dem Hintergrund des 11. September 2001 gilt es, auf alle denkbaren Eventualitäten vorbereitet zu sein und die größtmögliche Sicherheit sowohl in den Stadien als auch abseits des grünen Rasens zu gewährleisten.

Mit der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BKK) in Bad Neuenahr-Ahrweiler unterhält der Bund seit mehr als einem halben Jahrhundert eine zentrale Bildungs- und Forschungseinrichtung. Das ganze Jahr hindurch bilden Experten nationale und internationale Führungs- und Leitungskräfte des Bevölkerungsschutzes in Theorie und Praxis aus. Mit Blick auf die Fußball-WM bereiten sich in der Akademie die Führungsstäbe der zwölf WM-Städte sowohl auf politischer Ebene als auch der Rettungs- und Hilfsorganisationen auf das Großereignis vor.

In der vergangenen Woche beherbergte die Akademie rund 50 Verantwortliche der Bundeshauptstadt, bei denen im Krisen- oder Katastrophenfall die Fäden zusammenlaufen. In den so genannten Befehlszentralen galt es für die Verantwortlichen von der Spree in Sachen Sicherheit unter möglichst realen Bedingungen verschiedene Gefahrensituationen in Berlin und Bonn "durchzuspielen", um das Zusammenspiel untereinander, aber auch die Leistungsfähigkeit der Rettungs- und Hilfsorganisationen zu überprüfen, und mögliche Schwachstellen auszumerzen.

Hektische Betriebsamkeit

Die Übung: Noch herrscht gelöste Stimmung unter den Berlinern, die am frühen Morgen ihre Plätze in den beiden mit allen modernen Kommunikationsmitteln ausgestatteten Befehlszentralen eingenommen haben. Während sich in einem Schulungstrakt das Führungspersonal auf politischer und verwaltungstechnischer Ebene zur Zentralen Einsatzleitung zusammengefunden hat, bilden Entscheidungsträger der Berufsfeuerwehr, der fünf führenden Hilfsorganisationen und andere Vertreter der "operativ-taktischen Ebene" die Technische Einsatzleitung. Doch schon wenig später herrscht hektische Betriebsamkeit in beiden Zentralen: Die eine spielt das Szenario für Berlin durch, die andere für Bonn. Denn jetzt gilt es, auf eine Gefahrenlage zu reagieren, mit der sie die Experten der AKNZ konfrontieren.

Angeführt vom Senatsbeamten Norbert Schmidt, der bei der Übung die Rolle des Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit einnimmt, erreicht die unter anderem aus Vertretern von Polizei, Bundeswehr und Senatsverwaltung bestehende Zentrale Einsatzleitung folgende Meldung: Brand in der U-Bahn, Gasentwicklung in der Tunnelröhre.

Die Vorfreude auf die Eröffnungsgala am Abend weicht augenblicklich dem Ernst der Lage. Schmidt und seine Mitstreiter dürfen keine Zeit verlieren, müssen schnell die richtigen Entscheidungen treffen. Nachdem alle verfügbaren Informationen gesammelt wurden, diskutieren sie die Schadenslage, um systematisch einen Maßnahmenkatalog zu erstellen.

Obwohl die weltweite Sicherheitslage für Deutschland keine akute Bedrohung verheißt, sind sich die Berliner Verantwortlichen im Klaren darüber, dass Großveranstaltungen wie eine Fußball-WM mit ausverkauften Stadien und Ansammlungen von Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen für den internationalen Terrorismus als attraktive Ziele gelten können. Sie schließen einen terroristischen Anschlag nicht aus.

Die Zentrale Einsatzleitung beschließt nach Rücksprache mit der FIFA, dass die abendliche Gala weder abgesagt noch verschoben wird. Stattdessen muss das Verkehrskonzept vor dem Hintergrund des U-Bahn-Unglücks überprüft und gegebenenfalls überarbeitet werden. Gleiches gilt für die Sicherheitsmaßnahmen im gesamten Stadtgebiet.

Weitere Meldungen treffen ein: Der Brand ist unter Kontrolle, 317 Verletzte sind zum Teil bereits abtransportiert. 156 Tote sind zu beklagen. Die Einsatzkräfte vor Ort rechnen jedoch mit einem Ansteigen der Opferzahlen, da weite Teile des Tunnels noch nicht begehbar sind. Der West-Bahnhof wird evakuiert und anschließend gesperrt, das LKA ist vor Ort, um sich im Zuge erster Ermittlungen ein Bild machen zu können. Der Verkehr rund um den Unglücksort ist weitgehend zum Erliegen gekommen.

Die Lage ist weiterhin unklar; die Ursache der unterirdischen Explosion noch nicht geklärt. Die Einsatzleitung beschließt, eine Hotline einzurichten, über die Bürger erfahren können, ob sich Angehörige unter den Opfern befinden. Darüber wird angesichts der vielen internationalen Besucher in der Stadt auch das Auswärtige Amt informiert. Eine der wichtigsten Fragen, mit der sich das Team um Norbert Schmidt auseinandersetzen muss: Inwiefern kann und soll die Öffentlichkeit informiert werden?

"Wir dürfen mit Informationen nicht hinter den Berg halten, müssen die Situation jedoch versachlichen", weist Schmidt an. Wilde Spekulationen oder gar Panikmache von Seiten der Medien gilt es zu verhindern. Mitten in diese Diskussion platzt eine weitere Unglücksmeldung. Am anderen Ende der Stadt sind etliche Personen mit akutem Brechdurchfall ins Krankenhaus eingeliefert worden. Da die Einsatzzentrale über keine konkreten Informationen verfügt, ist auch sie zunächst auf Spekulationen angewiesen: Haben sich womöglich die ersten Personen mit dem Vogelgrippe-Virus infiziert, oder handelt es sich um eine Lebensmittelvergiftung?

Die Vermutung, dass etwa die verseuchte Mayonnaise eines Imbisses eine Salmonellose ausgelöst haben könnte, macht die Runde. Die Gesundheitsbehörden werden eingeschaltet. Entsprechende Untersuchungen der betroffenen Personen sollen Klarheit bringen. Beide Einsatzleitungen arbeiten parallel auf verschiedenen Ebenen, aber unabhängig voneinander an denselben Unglücksszenarien.

Während die Mannschaft um Norbert Schmidt mit der in Berlin spielenden Übung ein Heimspiel ohne Zeitdruck zu bestehen hat, findet sich die Technische Einsatzleitung in Bonn wieder. Zudem muss sie unter Leitung des Berliner Branddirektors Ingo Böttcher die ihr gestellten Aufgaben in Echtzeit bearbeiten; die große und für alle gut sichtbare Uhr tickt unaufhaltsam.

Während in Bonn allein 2 157 Einsatzkräfte den angenommenen U-Bahn-Brand mit all seinen Begleiterscheinungen bekämpfen, stellen sich der sichtlich angespannte Berliner Innensenator (übungshalber), unterstützt von seinen Behördenleitern, bei einer Pressekonferenz den kritischen Fragen der von Experten gemimten Journalisten. Doch auch diese Hürde meistern die Entscheidungsträger.

Nach etwa acht Stunden ist alles vorbei. Die Berliner tauschen die Fiktion wieder gegen die Realität. Der U-Bahn-Brand hat sich als "normaler" Unfall herausgestellt. Die an Brechdurchfall erkrankten Personen waren Opfer eines Anschlags unter Verwendung eines biologischen Giftes. Die Dozenten der AKNZ sind mit der Leistung der Berliner sehr zufrieden. Die Bundeshauptstadt ist für den Ernstfall offensichtlich gerüstet.

"Berlin hat für Polizei und Feuerwehr für die Zeit der Fußball-WM eine Urlaubssperre verhängt, so dass bis zu 7 500 Feuerwehrleute und 18 000 Polizeibeamte einsatzbereit sein werden", erklärt Norbert Schmidt. Nach den Berlinern werden sich bis Ende Januar nach und nach die Führungsgremien der anderen elf WM-Städte in Bad Neuenahr-Ahrweiler einfinden, um den Ernstfall zu proben.

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