70 Jahre Kriegsende Die traumatisierte Generation

Lange Zeit waren die Kriegserlebnisse der Zivilbevölkerung von einem Tabu belegt, das auch innerfamiliär kaum gebrochen wurde. Viele derjenigen, die damals Kinder waren, beginnen erst im Alter mit der Verarbeitung des Erlebten.

 VERLORENE KINDHEIT: im Krieg und in der Nachkriegszeit: Ein Mädchen läuft Rollschuh auf dem Bürgersteig der Bonner Heerstraße.

VERLORENE KINDHEIT: im Krieg und in der Nachkriegszeit: Ein Mädchen läuft Rollschuh auf dem Bürgersteig der Bonner Heerstraße.

Foto: GA-Archiv

Mit sich ins Reine kommen. Das klingt nicht sonderlich schwer in einer Zeit, in der es für jedes Problem eine Zeitschrift, eine App oder irgend eine Selbsthilfegruppe zu geben scheint. Vor 70 Jahren war das anders.

Vor allem diejenigen, die die Schrecken des Krieges als Kinder miterlebten, blieben allzu oft mit ihren Erfahrungen allein. „Vergiss alles und schau lieber nach vorne. Sei froh, dass du überlebt hast.“

Aus Sätzen wie diesen bestand vielfach die ganze „Therapie“ für eine Generation, der es buchstäblich die Sprache verschlagen hatte, weil sie Nächte in Luftschutzkellern verbrachte, Flucht und Vergewaltigungen erlebte, von Tieffliegern gejagt oder zu Waisenkindern gemacht wurde. Eine traumatisierte, eine ungetröstete Generation.

Von ausweichenden, einsilbigen Antworten waren in vielen Familien nach dem Krieg ganze Jahrzehnte geprägt. Einen gesellschaftlichen Resonanzraum für persönliches Leid gab es kaum, Wehleidigkeit zeigte „man“ nicht, und in den Fünfziger und Sechziger Jahren erfüllten vielfach Arbeit, Erfolg und materieller Wohlstand die Funktion der Therapie.

Andere entwickelten und pflegten eine unerbittliche Härte gegen sich selbst – immerhin hatte man einst gelernt, notfalls hart zu sein „wie Kruppstahl“. Die Unfähigkeit zu Trauern und Gefühle auszudrücken – oft wurde sie an die eigenen Nachkommen geradezu weitervererbt.

Ging es um persönliche Erlebnisse und Schicksale der Familienmitglieder, so wurde es oftmals merkwürdig still. Und das, obwohl doch kein anderes Thema in den Medien und auf dem Büchermarkt so dauerpräsent ist wie der Zweite Weltkrieg.

Anders als die deutsche Schuld, die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden blieben Bombennächte und Flucht aus der öffentlichen Diskussion und der Publizistik lange Zeit verbannt.

Niemals, schrieb der kürzlich verstorbene Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass in seiner Novelle „Im Krebsgang“ zur Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Erinnerung, hätte man über so viel Leid schweigen dürfen, „nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich“ gewesen sei.

Mit dem „Krebsgang“ hatte Grass – ähnlich wie kurz zuvor schon Jörg Friedrich mit seinem Buch „Der Brand“ über den Bombenkrieg – eine Erinnerungswelle aus Büchern, Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen über die Schrecken der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten ausgelöst.

Das Bekenntnis seiner eigenen Mitgliedschaft in der Waffen-SS hatte der Schriftsteller indes ein halbes Jahrhundert aufgeschoben.

Wenn überhaupt, so waren es Fronterlebnisse der Männer, die in trauter Runde zum Besten gegeben wurden. Dennoch – oder womöglich gerade deswegen – gibt es bis heute immer wieder Gelegenheiten wie Familienfeste mit gemütlicher Kaffeetafel und alten Fotos, bei denen es aus jemandem unvermittelt herausbricht.

„Es“, das ist das verdrängte, nie verarbeitete und doch nie vergessene Erleben derjenigen, die den Krieg als Kinder erlebten oder unter schier unglaublichen Bedingungen mitten in den Kriegswirren oder auf der Flucht geboren wurden.

„Das Leben“, sagt der Schriftsteller Gabriel García Márquez, „ist nicht das, was geschah, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert.“

Eines der Bücher der auf das Thema deutsche Kriegstraumata spezialisierten Publizistin Sabine Bode trägt den Titel „Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“. Die damals Geborenen, so die These der Autorin, seien „im eigenen Land fast sechzig Jahre lang schlichtweg übersehen worden. Ihr Schicksal interessierte nicht. Es wurde nicht erforscht.“

Bei ihren Recherchen, so berichtete sie in den Medien, habe sich ein „zähes Thema“ offenbart, weil ihre Zielgruppe nicht in der Lage gewesen sei, über ihre Erfahrungen zu reden. Viele hätten nicht einmal gewusst, wie sehr sie durch Bombennächte und Angst geprägt waren, oder hatten gründlich verdrängt, was sie belastete. Sabine Bode: „Wenn sie später als Erwachsene psychische Probleme bekamen, fielen ihnen alle möglichen Ursachen ein – aber nicht ihre Kriegskindheit.“

Welche Angst gerade Kinder in den Bombennächten ausgestanden haben, beschreibt Wolfgang Niedecken mit seiner Band BAP 2004 im Lied „Ein für allemohle“: „All die Pulsschläsch em Stockdunkle, all dä Krach, all dä Jestank, all dä Stöbb in Kinderlunge, all dä Rauch, all die Anx, all die Wunde, all die Träne, all dat Bloot und all dä Dreck, all die Duude ohne Name, zerfetz, verrengk und verseng – die kräät se niemieh verdräng.“

Die kann sie nicht mehr verdrängen, heißt es also in dem Lied über ein Kölner Mädchen, das im Jahr 1942 sieben Jahre alt war. Der 30. Mai 1942 sollte als die „Nacht der tausend Bomber“ in die Kölner Stadtgeschichte eingehen – dabei war sie nur der Auftakt der immer heftiger werdenden alliierten Luftangriffe auf die Domstadt.

Ein anderes Beispiel bietet Walter Kempowskis 3000 Seiten starke literarische Jahrhundertcollage „Echolot“, bestehend aus Briefen, Notizen und Augenzeugenberichten. Das Konvolut enthält etwa den Bericht einer Frau, die zu den wenigen Überlebenden eines versenkten Flüchtlingsschiffes in der Ostsee gehört. Im eisigen Meer verliert sie ihre fünf Kinder.

Eines nach dem anderen versinkt entkräftet im Wasser, die kleine Tochter wird von scharfkantigen Eisschollen getötet. Eine psychologische Betreuung, wie sie heutzutage nach jedem schweren Verkehrsunfall zur Verfügung steht, gibt es schlichtweg nicht. Doch nicht nur der pure Mangel an geschulten Fachkräften war ein Grund für das emotionale Alleinsein.

Psychoanalyse und Psychotherapie in der Bundesrepublik hätten sich dem Thema der Vertreibung und der Kriegserlebnisse weitgehend verweigert, sagte Sabine Bode im vergangenen Jahr bei einer Podiumsdiskussion: „Die Therapeuten fühlten sich nicht berechtigt, diese Thematisierung zuzulassen“.

Dass die Traumata der Betroffenen jahrzehntelang verschwiegen worden seien, weil die deutsche Gesellschaft diese Erfahrungen tabuisiert habe, wäre ihrer Ansicht nach eigentlich Anlass genug für eine zusätzliche Trauer.

Der Theologe Joachim Süß, ebenfalls ein Experte auf dem Gebiet der „Kriegskinder“, teilte in der Runde diesen Befund. Seiner Wahrnehmung zufolge leben wir „noch immer in einer zutiefst traumatisierten Gesellschaft“, die sich bis heute der Trauer nicht wirklich gestellt habe.

Gesellschaftlich war das auch nicht immer erwünscht: Gerade in der Generation der „68er“ war die Meinung vorherrschend, das Leid der Deutschen sei die „gerechte Strafe“ für den von den Nazis vom Zaun gebrochenen Krieg. Wer vom deutschen Leid sprach, weckte lange Zeit den Verdacht, von deutschen Verbrechen ablenken und die Schuld aufrechnen zu wollen.

Wie sich Trauer unideologisch und doch kollektiv zum Ausdruck bringen lässt, zeigte sich am Mittag des 18. Oktober 2014 in Bonn, als zum Gedenken an den schweren Bombenangriff nach 70 Jahren alle Kirchenglocken läuteten. Die Gedenkveranstaltungen fanden großen Anklang, und eine Artikelserie dieser Zeitung zum Thema erfuhr enorme Resonanz.

Nach der Veröffentlichung ihres Buches über die „vergessene Generation“ erhielt Sabine Bode mehr als 400 Dankesbriefe. Die Absender waren vielfach nicht Kriegskinder, sondern deren im Frieden aufgewachsene Nachkommen. In einer Zuschrift hieß es exemplarisch: „Nun verstehe ich endlich, warum meine Eltern so sind, wie sie sind“.

Aus der Traumaforschung ist bekannt, dass seelische Erschütterungen, die von den Betroffenen selbst nicht aufgearbeitet worden sind, an nachfolgende Generationen weitergegeben werden und in deren Bewusstsein weiterarbeiten.

Womöglich ist auch dies ein Grund dafür, dass das Interesse an den Geschehnissen von damals ungebrochen ist, wie die „Deutsche Dienststelle“ mit Sitz in Berlin in einer aktuellen Pressemitteilung darlegt.

Sie verwaltet Millionen von Akten ehemaliger Wehrmachtsangehöriger und hilft auch Kriegskindern bei der Suche nach ihren Vätern. Rund 40 000 Anfragen verzeichne man weiterhin jährlich, hieß es jetzt. Und: Besonders die Enkelgeneration beschäftige sich mit der Vergangenheit der eigenen Familie.

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