Gefängnisse in Nordrhein-Westfalen Der Geburtenknick kommt im Knast an

Bald vier Jahre ist der grausame Foltermord in der Siegburger Justizvollzugsanstalt her. Doch für Frank Neubacher ist es keine alte Geschichte aus der Vergangenheit. Im Gegenteil. Neubacher leitet das Institut für Kriminologie an der Kölner Universität, und vor wenigen Tagen ist sein neues Forschungsprojekt angelaufen.

 Blick in die Zelle 749 in der JVA Dortmund.

Blick in die Zelle 749 in der JVA Dortmund.

Foto: dpa

Bonn/Region. Bald vier Jahre ist der grausame Foltermord in der Siegburger Justizvollzugsanstalt her. Doch für Frank Neubacher ist es keine alte Geschichte aus der Vergangenheit. Im Gegenteil. Neubacher leitet das Institut für Kriminologie an der Kölner Universität, und vor wenigen Tagen ist sein neues Forschungsprojekt angelaufen.

"Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug" ist der Titel der Studie, die mit 500 000 Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. "Die Situation in den Jugendstrafanstalten hat sich etwas verbessert", sagt der Kriminologe - und schiebt sogleich hinterher: "Trotzdem ist die Situation weit davon entfernt, optimal zu sein."

Rückschau: November 2006. Auf äußerst brutale Weise hatten drei junge Männer zwischen 17 und 21 Jahren ihr 20-jähriges Opfer in ihrer beengten Gemeinschaftszelle geschlagen, vergewaltigt, gequält und schließlich gezwungen, sich zu erhängen ( der GA berichtete).

Es folgten eine heftige politische Debatte, ein Prozess und lange Haftstrafen für die jungen Männer. Sie hätten in der Zelle "ein Klima der Todesangst erzeugt und aufrechterhalten", urteilte der Richter damals. "Der Mord in Siegburg ist eine enorme Hypothek. Der gesamte Strafvollzug steht unter starker öffentlicher Beobachtung", sagt der Kölner Professor heute.

Doch die Situation in den Gefängnissen hat sich seitdem verbessert. Dafür sorgt zunächst eine deutschlandweite Entwicklung: der Geburtenknick. Es gibt weniger Jugendliche - und damit auch potenziell weniger Häftlinge in Deutschland. "Die demografische Lage kommt in den Gefängnissen an", sagt Kriminologe Neubacher.

Dass die Belegungszahlen zurückgehen, bestätigt auch das NRW-Justizministerium auf GA-Nachfrage. 1 530 Gefangene im Jugendvollzug waren es noch 2007, 1 400 sind es in diesem Jahr. Auch die Anzahl der eingesperrten Erwachsenen ist gesunken, von 16 370 auf 15 930.

Im Bereich der Gewalttaten und Suizide ergibt sich ein ähnliches Bild. 53 Verdachtsfälle von Gewalt gab es 2007 in allen NRW-Gefängnissen, drei Jahre später sind es nur noch 26. Etwa ein Drittel der Fälle könnten im Jugendvollzug passiert sein, schätzt das Ministerium. Eine genaue Erhebung gebe es nicht. Auch die Suizidrate nimmt ab: Vor zehn Jahren waren es 22 Selbstmorde pro Jahr, 2006 waren es 14. In diesem Jahr nahmen sich bislang neun Gefangene das Leben.

Doch die nüchternen Zahlen verschweigen vieles. "Das Gefängnis ist ein Biotop, in dem es neben offiziellen Vorschriften inoffizielle Regeln der Gefangenen gibt. Gewalt wird versteckt ausgeübt und vor den Bediensteten verschleiert. Wer doch etwas mitteilt, gilt als Zinker und muss mit Sanktionen rechnen", sagt Neubacher, der in seinem Forschungsprojekt untersucht, wie Neuankömmlinge mit dieser Situation umgehen.

Entscheidend sei, was für ein Klima zwischen den Gefangenen und im Verhältnis zu den Bediensteten herrsche. Seit Siegburg sei im letzteren Punkt mehr Problembewusstsein in den Anstalten vorhanden, hat er beobachtet.

Den Personalmangel hat das Justizministerium nach und nach ausgeglichen. Doch vielen der 8 230 Bediensteten geht es gesundheitlich nicht gut. Der Krankenstand liegt bei mehr als neun Prozent. "Der Krankenstand ist zu hoch", heißt es lapidar aus dem Justizministerium - ohne Ursachen zu nennen.

Obendrein überziehen die Gefangenen das Bundesland seit Jahren mit einer Klagewelle. 1 354 Verfahren wegen vermeintlich menschenunwürdiger Unterbringung von Häftlingen laufen momentan, die meisten befinden sich im Stadium der Prozesskostenhilfebewilligung, im Klage- und Berufungsverfahren. Immer wieder geht es darum, ob eine Zelle zu klein war oder ist.

Manche Haftanstalten stammen aus dem 19. Jahrhundert. In den neu gebauten Gefängnissen sind die Zellen deutlich größer und die sanitären Anlagen klarer abgetrennt. Auftrieb hat den Gefangenen auch ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamm gegeben, das einzelnen Gefangenen Schadenersatz zugesprochen hat. Der Bundesgerichtshof hat diese Entscheidung allerdings bereits kassiert. Eine unklare Situation mit offenem Ende.

Den Jugendstrafgefangenen will der neue NRW-Justizminister Thomas Kutschaty "besser früh helfen, statt später strafen" - so steht es im Koalitionsvertrag. "Der Minister setzt auf eine pädagogische Ausgestaltung der Jugendstrafe durch Vollzug in offenen Formen und in Wohngruppen", heißt es aus dem Justizministerium ergänzend.

Der Kölner Kriminologe Neubacher dringt auf mehr Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für die Häftlinge, und auf ein klares Präventionskonzept gegen Gewalt. Die Bediensteten müssten wissen, wie sie sich in Gewaltsituationen verhalten sollen.

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