Arbeitsschutz Gesundheit und Sicherheit als Unternehmensziele

POTSDAM · Unfallversicherer rufen beim Potsdamer Dialog die „Vision Zero“ für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten aus. Davon profitieren auch Arbeitgeber - wenn sie bereit sind, ihre Unternehmenskultur an den künftigen Anforderungen auszurichten.

 Arbeitszufriedenheit durch Kreativität und Initiative: Nach Ansicht von Unternehmensberatern macht dies 80 Prozent des Betriebserfolges aus.

Arbeitszufriedenheit durch Kreativität und Initiative: Nach Ansicht von Unternehmensberatern macht dies 80 Prozent des Betriebserfolges aus.

Foto: STOCK ADOBE

Ein Flugbegleiter der Air Berlin setzt bei der Sicherheitsunterweisung auf seine fränkische Herkunft. Auf einem Flug nach Nürnberg lässt er kräftig das R rollen und macht auch sonst keinen Hehl aus seiner Herkunft. Ein Flugpassagier nimmt die ulkige Ansage auf und stellt sie ins Netz. Wenig später bekommt der Mitarbeiter eine Abmahnung.

Für die Unternehmensberater Stefan Kaduk und Dirk Osmetz ein klassischer Fall, wie es nicht hätte laufen sollen. Stattdessen zeigen sie ein anderes Video von einem Flug der Southwestern in den USA. Hier greift ein afroamerikanischer Steward zum Bordmikrofon. Er lässt die Passagiere in die Hände klatschen und rappt die ganze langweilige Litanei über Notausgänge, Sauerstoffmasken und Rauchverbot. Folge hier: Der Mann darf im Folgejahr die Bilanzpressekonferenz der Airline moderieren.

Nicht nur im Flugzeug bekommt der engagierte Mitarbeiter frenetischen Applaus. Auch 400 Arbeitsschützer und Gesundheitsförderer aus der Bundesverwaltung, von der Bundeswehr und der Deutschen Bahn spenden Beifall. In einem Kongresshotel in Potsdam sind sie in dieser Woche auf Einladung der Unfallversicherung Bund und Bahn (UVB) zusammen gekommen, um über Wege zu einer umfassenden Präventionskultur zu suchen. „Wir wollen nicht, dass unsere Arbeitskultur krank macht“, sagt Bernhard Schneider, der Geschäftsführer der Unfallversicherung, die alle Bundesbediensteten und beispielsweise auch die Helfer des THW oder des Roten Kreuzes bei Arbeitsunfällen versorgt. Das Ziel sei die „Vision Zero“, also eine Welt ohne Berufskrankheiten und tödliche Leiterstürze.

Zusammen mit der Gesetzlichen Unfallversicherung und anderen öffentlichen Trägern hat die UVB sich das Thema jetzt groß auf die Fahnen geschrieben. Der Grund dafür ist simpel. „Nach 1910 hat die Zahl der Unfälle durch technische Innovation und Arbeitsschutznormen stark abgenommen. In den letzten 15 Jahren hat sie sich aber auf niedrigem Niveau eingependelt“, erklärt Bernd Niggemeyer. Er verantwortet die Bereiche Arbeitsschutz und Prävention bei der UVB. Für weitere Fortschritte bedürfe es nunmehr neuer Instrumente.

Als zentrales Vehikel setzen die deutschen Unfallversicherer auf eine breit aufgestellte Kampagne, die im Oktober bundesweit starten soll. Allein die Deutsche gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) stellt dafür in den ersten vier Jahren 6,5 Millionen Euro bereit. DGUV-Hauptgeschäftsführer Walter Eichendorf, der das Konzept in Potsdam präsentiert, möchte Sicherheit und Gesundheit der Mitarbeiter künftig als ebenso wichtige Unternehmensziele verstanden wissen wie Effizienz oder Gewinn. Das rechne sich nicht nur für die Versicherer, die weniger Schadensfälle regulieren müssten, betonte er. „Studien zeigen, dass jeder Euro, der in Deutschland in Sicherheit investiert wird, dem Unternehmen einen Gewinn von 1,70 Euro zurückbringt.“

Welche Ansätze es in Unternehmen dazu gibt, zeigen die Betriebswirte Kaduk und Osmetz. Die beiden verstehen ihre Arbeit als Gegenmodell zu den Effizienz-Optimierern von McKinsey und Co. An der Universität der Bundeswehr in München suchen sie seit zehn Jahren nach Unternehmen, die gängige Management- und Führungsmuster durchbrechen. Anders als nach gängiger Betriebswirtschaftslehre machen nach ihren Studien nicht normierte Prozesse, sondern Kreativität und Initiative 80 Prozent eines Unternehmenserfolges aus.

Als Beispiel führen sie einen Mittelständler vom Bodensee an, der „Effizienz durch Verschwendung“ praktiziere. Seine Leiharbeiter bezahle er besser als seine Stammbelegschaft, da diese sein wirtschaftliches Risiko abfedern. Das Vier-Augen-Prinzip und formelle Meetings gebe es nicht mehr. Jeder solle seine Entscheidungen selbst verantworten, wobei eine Fehlerquote in Kauf genommen werde. Und jeder Mitarbeiter sei für seine Weiterbildung selbst verantwortlich. Hohe Eigenverantwortung und ein starkes Zugehörigkeitsgefühl seien die Folgen, und Fehler würden als Treiber für Innovationen verstanden.

Gerade den jüngeren Mitarbeitern im Alter von 20 bis 35 Jahren und der neuen Generation Z im Alter bis 20 Jahren kommen solche Denkansätze entgegen, hebt die Management-Beraterin Steffi Burkhart hervor. Diesen Menschen stünden im Arbeitsleben statistisch betrachtet sechs Jobwechsel bevor. 65 Prozent der zukünftigen Jobs seien noch nicht einmal bekannt. Viel Flexibilität ist mithin gefragt. Im Gegenzug forderten diese Generationen auch Freiräume für sich ein, um Beruf, Familie und Freizeit unter einen Hut zu bringen.

Die Digitalisierung zur Industrie 4.0 zwingt Unternehmen und Beschäftigte sogar zu noch höherem Veränderungstempo. Alle standardisierten Aufgaben werden an Roboter und künstliche Intelligenz übertragen, glaubt Burkhart. Das schaffe Freiräume ebenso wie Gefahren. Unternehmen, die gerade ihre jüngere Belegschaft auf diesem Weg nicht hinreichend mitnähmen, müssten künftig mit dramatischen Personalengpässen rechnen.

In Folge des demografischen Wandels könnten vier Millionen Stellen unbesetzt bleiben. Schlechte Arbeitgeber dürften das Nachsehen haben. Schon aus diesem Grund sei ein Umdenken hin zu einer umfassenden Gesundheitskultur unverzichtbar.

Zweifler an der „Vision Zero“ bringt Versicherungs-Co-Chef Eichendorf mit einer einfachen Gegenfrage zum Nachdenken. Er will dann wissen: „Wie viele tödliche Arbeitsunfälle halten Sie denn für vertretbar?“

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