Interview über Migräne Wenn der Kopfschmerz das Leben bestimmt

KIEL · Manche Patienten bezeichnen die Schmerzklinik Kiel als „Zauberberg“ für leidgeprüfte Migräne- und Kopfschmerzpatienten. Mit dem ärztlichen Direktor Professor Hartmut Göbel sprach unser Autor darüber, was gegen die Schmerzen hilft.

Herr Professor Göbel, leiden Sie selber gelegentlich unter Kopfschmerzen?

Hartmut Göbel: Ich hatte auch als Schüler Kopfschmerzen, weil ich kurzsichtig bin und damals noch keine gute Brille hatte. Bis mich mein Arzt zum Augenarzt geschickt hat – und da war das dann über Nacht weg. Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich mich mit dem Thema beschäftigt habe. Man sollte sich Sorgen machen, wenn man keine Kopfschmerzen kennt. Denn Kopfschmerzen helfen einem ja weiter, wenn man zu viel gearbeitet hat, wenn man vielleicht zu viel Alkohol getrunken hat, wenn man zu lange aufgeblieben ist oder wenn man nicht genug Ausgleich und frische Luft hatte. Das Gute am Schmerz ist, dass er einen zu gesundem Leben motiviert und man lernt, was man besser nicht macht.

Was charakterisiert einen Migränepatienten? Gibt es den Migräne-Typ?

Göbel: Eine so genannte Migräne-Persönlichkeit war vor zwei Generationen eine große Diskussion in der Wissenschaft. Psychologen haben getestet, ob die Persönlichkeit einen Zusammenhang mit der Migräneanfälligkeit hat. Belege dafür fanden sich jedoch nicht. Das kann man sich auch leicht erklären, weil Migräne so häufig auftritt, dass alle Persönlichkeitstypen unter den Betroffenen zu finden sind. Heute weiß man, dass schon 30 Prozent der Kinder in der Schule Migräneattacken kennen. Im Laufe des Lebens ist nahezu jeder dritte Erwachsene betroffen.

Man weiß aber seit ein paar Jahren, dass Migräne auch genetisch bedingt ist ...

Göbel: Ja. Wir wissen heute, dass das Risiko, Migräne zu erleiden, durch die Erbanlagen mitbestimmt ist. Die 38 heute bekannten Migräne-Risikogene führen dazu, dass Migränepatienten sehr schnell, sehr aktiv denken können, dass sie schon drei Zimmer weiter den Wasserhahn tropfen hören, sehr viel tiefer emotionale Empfindungen wahrnehmen können und oft schon fünf Antworten haben auf Fragen, die noch gar keiner gestellt hat. Man hat Migräne nicht nur während der Anfälle, man hat die Migränebereitschaft und die genetischen Anlagen ein Leben lang, man kann diese nicht abschütteln. Viele Menschen denken, man müsse nur die eine spezifische vermeintliche Ursache aufdecken. Am häufigsten wird dabei die Halswirbelsäule vermutet. Andere denken, Migräne trete aufgrund einer Nahrungsmittelallergie oder durch falsche Einlagen auf. Ändert man dies, könne man leben, wie man will. Das funktioniert aber nicht. Die Risikogene und die damit verbundene Migränebereitschaft sind fest im Bauplan des Körpers eingewebt, so wie das Geschlecht, die Augenfarbe oder die Haarfarbe.

Wie äußert sich das konkret?

Göbel: Weil Migränepatienten eine ständige Reizbereitschaft haben, werden sie auch ständig durch Reize überflutet. Ihr Nervensystem arbeitet an der „Obergrenze“. Wenn jedoch Reize zu schnell, zu impulsiv, zu plötzlich oder alle auf einmal und andauernd einströmen, dann ist das Nervensystem überfordert. Die Energieversorgung der Nervenzellen ist überlastet und es kommt zu einer Fehlsteuerung im Nervensystem. Die Regulierung der Reizverarbeitung bricht zusammen. Betroffene werden geruchsüberempfindlich, lärmüberempfindlich und lichtüberempfindlich. Die Schmerzen entstehen durch eine übermäßige Freisetzung von Entzündungsfaktoren, Arterien der Hirnhaut entzünden sich, Folge ist ein pochender, pulsierender Migräneschmerz.

Was kann der Patient dagegen tun?

Göbel: Migräne ist eine komplexe Erkrankung. Menschen, die meinen, es muss nur der eine bestimmte Faktor gefunden werden, werden am Ende enttäuscht. Für die erfolgreiche Behandlung benötigt man in erster Linie zeitgemäßes Wissen zur Entstehung und zum richtigen Verhalten. Man kann Migräne nicht einfach mit einer Schmerztablette abschalten oder mit einer Auslassdiät umgehen. Man muss vielmehr alle Lebensbereiche überdenken und anpassen. Ernährung, Tagesplanung, Pausen einlegen, Schlafrhythmus, Entspannung, Arbeitsplanung, Umgang mit Kollegen und Chef, Partnerschaft und Familie sind wichtige Bereiche. Auch einmal nichts zu tun, ist für viele Betroffene sehr schwer, aber für die Tagesplanung zentral. Alle diese Dinge klingen einfach, sind aber gerade in der Summe in unserer Zeit schwierig zu organisieren. Dies gilt gerade für junge Leute, bei denen ja alles so schnell und sofort gehen muss.

Was unterscheidet Migräne vom Spannungskopfschmerz?

Göbel: Spannungskopfschmerz tritt mit einem beidseitigen dumpfen Kopfschmerz auf. Wenn wir uns körperlich aktivieren, verstärkt er sich nicht. Bei Migräne ist das in der Regel undenkbar. Es besteht ein pochender Kopfschmerz, der sich bei körperlicher Tätigkeit verstärkt. Viele Migränekranke sind sogar bettlägerig. Täglich leiden 900.000 Menschen in Deutschland an Migräneattacken, 100.000 Betroffene müssen den Tag im dunklen Schlafzimmer verbringen, viele davon liegen mit unstillbarem Erbrechen im Badezimmer auf dem Fußboden. Bei Spannungskopfschmerz besteht keine Übelkeit und kein Erbrechen. 54 Prozent aller Kopfschmerzen sind Spannungskopfschmerzen, 38 Prozent werden durch Migräne bedingt. Acht Prozent gehen auf das Konto der über 365 anderen Kopfschmerztypen.

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Migräne und Spannungskopfschmerzen?

Göbel: Eine wichtige Komplikation beider Formen ist der Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. Der häufigste Fehler in der Behandlung ist, dass Informationen zum Verhalten, zur Vorbeugung nicht umgesetzt werden. Es werden dann sehr schnell viele Attacken auftreten; die Folge ist, dass zu häufig Akutmedikamente eingenommen werden. Nimmt man an mindestens zehn Tagen oder mehr Akutmedikamente ein, stellt sich die Empfindlichkeit im Nervensystem um. Die Folge ist eine erhöhte Sensitivierung mit der Entwicklung eines Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauch. Es erfolgt dann ein Kreislauf von immer mehr Attacken mit der Notwendigkeit, immer häufiger Akutmedikamente einzunehmen, bis schließlich ein Dauerkopfschmerz entsteht. Daher die wichtigste Regel: Kopfschmerz-Akutmedikamente sollten an weniger als an zehn Tagen im Monat eingenommen werden. Mindestens 20 Tage im Monat sollten keine Akutmedikamente für die Behandlung von Kopfschmerzattacken verwendet werden. Das gilt auch für die Triptane, die seit 1992 als Akutmedikamente bei Migräne eingesetzt werden.

Wer kommt in eine Schmerzklinik wie die in Kiel?

Göbel: Die Patienten, die zu uns kommen, haben in der Regel sehr schwere Ausprägungen der Kopfschmerzen. Sie haben meist chronische Verläufe, an bis zu 20 oder 30 Tagen pro Monat chronische Migräne oder Spannungskopfschmerzen. Es gibt Komplikationen in der Behandlung, oft der Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz. Viele nehmen täglich Akutmedikamente ein und können über viele Monate nicht mehr arbeiten. Viele leiden auch an psychischen Komplikationen. Es bestehen Depressionen, Betroffene leben sozial zurückgezogen, sind erschöpft und haben Schlafstörungen. Der Schmerz steht im Mittelpunkt des Lebens und des Verhaltens, bis oft nichts mehr geht.

Nach Angaben der WHO werden nur bis zu drei Stunden während des sechsjährigen Medizinstudiums dem Thema Kopfschmerz gewidmet. Ist das der Volkskrankheit Nummer 1 angemessen?

Göbel: Definitiv nein. Die Hauptdefizite in der Versorgung liegen in der zu geringen Aufmerksamkeit in der Aus- und Weiterbildung für Migräne und Kopfschmerzen. Hinzu kommen organisatorische Mängel im Gesundheitssystem. Es mangelt nicht an wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern an deren Umsetzung in der Versorgung. Daher braucht man Schwerpunkteinrichtungen.

Wie sehen Behandlungskonzepte aus?

Göbel: Unser Behandlungskonzept konzentriert sich auf neurologische Schmerzerkrankungen wie Migräne, chronische Kopfschmerzen und andere Schmerzerkrankungen bei Erkrankungen des Nervensystems. Diese zählen zu den am stärksten behindernden Leiden und gleichzeitig nach Demenz und Schlaganfall zu den drei teuersten neurologischen Erkrankungen. Kern ist die multimodale Schmerztherapie, das heißt die fachübergreifende Umsetzung des internationalen Wissens an den Bedürfnissen der Patienten, indikationsspezifische Kooperation spezialisierter Behandler und Vernetzung. Ziel ist, Schmerzen nachhaltig zu lindern, Lebensqualität wiederaufzubauen, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen.

Welche Rolle spielt richtige Ernährung für Migränepatienten?

Göbel: Da ihr Nervensystem Informationen besonders schnell verarbeitet, ist der Energiebedarf in ihrem Gehirn besonders groß. Die Migräneattacken entstehen durch ein Energiedefizit. Das Gehirn benötigt ausreichend Kohlenhydrate, Wasser und Sauerstoff für seine Energieversorgung. Ein konstanter Blutzuckerspiegel ohne große Schwankungen im Tagesverlauf kann Migräneanfällen nachweislich vorbeugen oder die Häufigkeit reduzieren. Da der Tiefpunkt des Blutzuckerspiegels nachts liegt und Migränepatienten oft morgens mit Kopfschmerzen aufwachen, kann es hilfreich sein, vor dem Zubettgehen noch einmal Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Geeignet sind ausgewogene Mahlzeiten mit komplexen Kohlenhydraten aus Vollkornprodukten, Kartoffeln und Reis. Auf Fastenkuren und besondere Diäten sollte man verzichten. Sie sind bei Migräne nicht wirksam.

Wie wichtig ist es für den Migränepatienten, über seine Krankheit gut informiert zu sein?

Göbel: Die zeitgemäße Migränetherapie besteht aus mehreren Säulen. Die erste ist Wissen und Information. Migränepatienten müssen wissen, wie Migräneattacken entstehen, was im Nervensystem passiert und wie sie ausgelöst werden. Sie brauchen eine umfassende Information über Verhaltensweisen und Maßnahmen, um sich vor Migräne zu schützen. Dazu gehört neben der Ernährung ein regelmäßiger Tag-Nacht-Rhythmus und das Lernen eines Entspannungstrainings wie die progressive Muskelrelaxation, was die Migränehäufigkeit deutlich reduzieren kann.

Inwiefern sind auch Kinder von Migräne betroffen?

Göbel: Es gibt Kinder, die sind gerade sieben und leiden schon an chronischen Kopfschmerzen. Es ist oft erschütternd, wenn man sehen muss, dass Kinder zum Teil seit Monaten nicht mehr in die Schule gehen können, dass sie gar nicht mehr am sozialen Leben teilnehmen können und die Eltern verzweifelt sind, wie es weitergehen soll. Kopfschmerzen können das ganze Leben aus dem Konzept bringen. Für Kinder und Jugendliche bieten wir spezielle Gruppen an. Außerdem kommen oft auch die Eltern mit dazu, so dass auch sie helfen können, das Wissen umzusetzen.

Sind viele Patienten schon in jungen Jahren von Migräne betroffen?

Göbel: Ja. Ein bekanntes Beispiel ist Marie Curie, die später zwei Nobelpreise bekommen hat und als 20-jährige Studentin aufgeben wollte, weil sie so schwere chronische Migräne hatte. Um das große Potenzial und die Kreativität, die gerade Migränepatienten haben, aufrechtzuerhalten, braucht man eine effektive Schmerztherapie.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort