Sozialexperiment Coronavirus als Stresstest: Hält der Generationenvertrag?

Berlin · Individualismus, Hedonismus, Egoismus. Was Sozialforscher als Zeichen der Zeit sehen, sind schlechte Antworten auf die Coronakrise. Hält der Gesellschaftsvertrag, wenn öffentliches und privates Leben Kopf stehen?

 Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen hat die Bundesregierung das öffentliche Leben erheblich eingeschränkt. Foto: Christophe Gateau/dpa

Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen hat die Bundesregierung das öffentliche Leben erheblich eingeschränkt. Foto: Christophe Gateau/dpa

Foto: Christophe Gateau

Grenzen geschlossen, Schulen zu, Kneipen dicht und dazu der gute Ratschlag: Meiden Sie Sozialkontakte. Die Coronavirus-Pandemie rüttelt das öffentliche und private Leben jeden Tag aufs Neue durch.

„Was jetzt passiert, das haben wir noch nicht erlebt“, sagt die Berliner Charité-Psychologin Isabella Heuser. „Das wird ein Feldexperiment zur Generationensolidarität.“ Ein Stresstest. Aber gibt es dabei auch ein „Wir schaffen das“?

Heuser ist zu großen Teilen optimistisch. Als langjährige Chefin der Charité-Klinik für Psychiatrie sieht und beobachtet sie viel. „Wir Menschen halten es schwer aus, wenn wir ein Risiko nicht genau einschätzen können und nicht genau wissen, wie wir uns verhalten sollen“, sagt sie. „Wir müssen uns an diese dynamischen Entwicklungen immer neu anpassen.“ Das habe nichts mit Chaos zu tun. „Ich glaube, dass die Bundesbürger das verstanden haben.“

Der Philosoph Wilhelm Schmid sieht in der Krise auch eine Chance zur Selbsterkenntnis. „Wenn die Not groß wird, werden Menschen einfallsreich. Und insofern ist das jetzt eine ganz gute Übung, um zu lernen, dass Dinge nicht einfach nur immer funktionieren, woran wir sehr stark gewöhnt sind, sondern dass alles im Grunde auch infrage stehen kann.“

Steht also ein Abschied von alten Gewissheiten an?

Der Metropolenforscher Wolfgang Kaschuba beschreibt die Lage jedenfalls als „surreal“, als „Phase gesellschaftlicher Irritation“. Der Trend, dass sich das Leben viel im öffentlichen Raum abspielt, kehre sich gerade um. „Wir bilden Kleineinheiten wie im Kloster“, sagt der Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität. Dabei schwingt Bedauern mit: Schließlich habe die Gesellschaft den Muff der 1970er Jahre mit dem starken Rückzug ins Private längst hinter gelassen.

Wie dynamisch die Lage ist, zeigt sich an jedem Wochentag Punkt zehn im nüchternen Hörsaal des Robert Koch-Instituts. Fallzahlen, die Toten, die Entwicklungen über Nacht - und klare Worte von Präsident Lothar Wieler: „Das ist der Anfang der Epidemie“, sagt er. „Wir werden in zwei Wochen sehen, ob die Maßnahmen helfen.“

„Ich glaube, dass die Menschen in dieser Situation jetzt durchaus solidarisch sein werden“, sagt Psychologin Heuser. Das sehe man allein schon an den Angeboten bei der Nachbarschaftshilfe. „Viele Menschen sind in großem Maße altruistisch. Das hat man auch während der Flüchtlingskrise gesehen.“

Doch zu viel Hoffnung will sie nicht machen. „Das Individualistische und auch das Hedonistische wird wegen eines Virus nicht verschwinden.“ Die kommenden Monate erscheinen Heuser wie ein großes Sozialexperiment. „Sehen die jüngeren Generationen, dass sie eine Verantwortung haben - selbst, wenn sie nicht selbst betroffen sind?“

„Junge Leute können sich jetzt vor Augen führen, dass es im Zweifelsfall der eigene Opa, die eigene Oma ist, die von der Epidemie betroffen sein können, und dass es vom eigenen Verhalten abhängt, ob das passiert“, sagt der Philosoph Schmid. „Es ist nicht sinnlos, was vorgegeben wird von Staat und Politik. Das zu ignorieren, hätte Konsequenzen - eben vielleicht auch für den eigenen Großvater und die Großmutter.“

Darüber hinaus bleiben Unwägbarkeiten.

Es werde auch weiter „Idioten und Psychopathen“ geben, sagt Isabella Heuser. „Die werden es geradezu herausfordern, andere anzustecken oder sich selbst anzustecken. Oder gegen die dringlichen Empfehlungen handeln.“

Schmid, der als „philosophischer Seelsorger“ mit seinen Büchern zur Lebenskunst mehrere Bestseller schrieb, sieht aber auch die Möglichkeit eines neuen Gesellschaftsvertrags. „Wir rücken stärker zusammen als Gesellschaft, das ist mein Eindruck. Und wir bekommen noch eine große wichtige Lehre: Diese Welt ist eine Schicksalsgemeinschaft. Was in einer Ecke der Welt passiert, hat Auswirkungen auf die andere Ecke und wird hoffentlich dazu führen, dass wir in Zukunft stärker uns dessen bewusst sind. Der alte Spruch „Was interessiert es mich, ob in China ein Sack Reis umfällt“, gilt nicht mehr.“

„Die Gesellschaft muss jetzt lernen, das Leben mit Corona auszuhalten“, sagt der Metropolenforscher Kaschuba. Sozialkontakte verlagerten sich nun noch mehr ins Digitale. Die öffentliche, von den Jüngeren als selbstverständlich angesehene Infrastruktur wie zum Beispiel Cafés, Clubs oder Fitnessstudios gerate dabei in Existenzgefahr. Hier zeige sich, wie fragil der öffentliche Raum sei. „Es wäre wichtig, dass die Gesellschaft jetzt nicht Nähe verlernt“, sagt der Ethnologe. Kippe die Besorgnis in Hysterie, bereite das auch einen Nährboden für Misstrauen gegenüber „den Anderen“, seien es Chinesen oder Italiener, bis hin zu Rassismus.

Und wie sieht es im Kleinen aus, im Familienleben?

„Jetzt zu glauben, dass wegen dieses Virus familiäre Konflikte verschwinden, alle enger zusammenrücken und sich wieder gut verstehen - das ist genau so eine Illusion, die viele an Weihnachten haben“, sagt Isabella Heuser. Für die Psychologin ist auch neu, dass Helfen nicht nur ein gutes Gefühl gibt. „Wir sollten solidarisch sein, aber auch uns selbst schützen. Wir sollten jetzt jeden Morgen neu nachdenken und uns auf das Wichtigste beschränken. Und dann überlegen, ob wir direkt vor der eigenen Haustür jemandem helfen können.“

Doch haben wir, die Bürger des 21. Jahrhunderts, überhaupt das ethische Instrumentarium, uns so zu verhalten, dass dabei der geringste Schaden entsteht? „Wir brauchen da keine große Ethik“, sagt Philosoph Schmid. „Es genügt das Eigeninteresse jedes Einzelnen, dass er oder sie in große Gefahr kommen kann, wenn nicht die Bereitschaft sehr groß ist, jetzt daran zu denken, was notwendig ist - zum Beispiel sich nicht unbedingt in größere Menschenmassen zu begeben.“

Eine offene Gesellschaft muss sich nun selbst einschränken - für Heuser ist das eine neue Erfahrung. „Es ist neu, dass wir, wie zum Beispiel Fußballfans, unseren emotionalen Bedürfnissen nicht mehr nachkommen können. Das genießen Menschen ja auch, wenn sie ihre Mannschaft anfeuern oder den Gegner ausbuhen können. Das wird fehlen.“

„Was nun gebraucht wird, sind Formen der Nachbarschaftshilfe“, betont Kaschuba. Über Crowdfunding könnten Verbraucher etwa existenzbedrohte Betriebe unterstützen oder über das Internet den Einkauf für Senioren organisieren. Doch auch mehr staatliches Engagement und mehr Kommunikation direkt mit den Bürgern sei erforderlich. „Politik und Wissenschaftler müssten der Gesellschaft mehr zutrauen. Wenn man die viralen Ketten unterbrechen will, muss man Kommunikationsketten aufbauen.“ Die Menschen dürften nicht zu Hause in ihren „Zellen“ im Ungewissen gelassen werden.

Werden wir uns also nun der Zerbrechlichkeit der Welt bewusst? „Der Fragilität der Welt und unserer eigenen Fragilität!“, sagt Schmid. „Da fliegt etwas durch die Luft, das wir nicht sehen, nicht riechen, nicht ertasten können und das trotzdem tief in unser Leben eingreift.“

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