Zelltests bringen Gene zum Sprechen

Die Knochen des ältesten bekannten Rheinländers im Rheinischen Landesmuseum an der Colmantstraße machen Bonn zu einem Mekka für Urmenschen-Forscher aus aller Welt

  Unter der Lupe  betrachten die Forscher die jahrtausendealten Fragmente der Neandertaler-Knochen, aufbewahrt im Rheinischen Landesmuseum Bonn.

Unter der Lupe betrachten die Forscher die jahrtausendealten Fragmente der Neandertaler-Knochen, aufbewahrt im Rheinischen Landesmuseum Bonn.

Foto: Fischer

Bonn. Wenn die Industrie ganze Landschaften verwüstet, nützt das bisweilen der Wissenschaft. Vor fast 150 Jahren schaufelten Steinbrucharbeiter den Inhalt einer Höhle im Neandertal bei Düsseldorf zutage, weil der Berg drumherum dem Kalkabbau weichen musste. Zwischen Sand und Lehm fanden sie ein Skelett: Reste eines Frühmenschen, fortan "Neandertaler" genannt.

Heute liegt das Skelett im Rheinischen Landesmuseum an der Colmantstraße - Bonn ist deshalb ein Mekka für Urmenschen-Forscher aus aller Welt. Zwei amerikanische Wissenschaftler kamen jetzt vom Ufer des Michigansees, um die Funde zu untersuchen.

Das Neandertal selbst war nach seiner Zerstörung für die Forschung lange Zeit kein Thema mehr. Erst im Jahre 1997 gelang es den Tübinger Archäologen Ralf Schmitz und Jürgen Thissen, dort zumindest die Schutthalde mit dem Höhlenabraum wiederzufinden.

Beim akribischen Durchsieben fanden sie nicht nur vier weitere Teile des Bonner Skeletts, sondern auch einige Knochen eines zweiten Neandertalers - und einen Zahn, der vielleicht zu einem dritten Frühmenschen gehört. Insgesamt sind es rund 70 Teile - allesamt so winzig, dass sie zusammengelegt in einem Schuhkarton Platz fänden.

"Es ist für uns eine große Ehre, dieses Material bearbeiten zu dürfen", sagt Fred Smith in fließendem Deutsch: Er und seine Frau Maria wirken an der Loyola University in Chicago. Bei ihrem Besuch in Bonn haben die beiden Anthropologen jetzt die neuen Funde vermessen und fotografiert. Mit den Daten wollen sie genauer klären, ob und wie das Vorgeschichtspuzzle zusammengehört.

Die Arbeiten sind Teil der Vorbereitungen zur großen Ausstellung "Roots - Wurzeln der Menschheit": Bei ihr soll im Jahr 2006 ein Großteil der weltweiten Neandertaler-Funde in Bonn zu sehen sein. Die Experten wollen dabei auch eins der wichtigsten Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre vermitteln: Die Neandertaler waren vollwertige Menschen, nicht die behaarten, halbwilden Affen, als die sie früher gern dargestellt wurden.

"Sie nutzten das Feuer und sorgfältig gestaltete Steinwerkzeuge", erzählt Schmitz. "Sie nutzten bei der Jagd die Eigenheiten des Geländes aus und spürten auch jeweils einer Tierart gezielt nach. Dazu braucht man planendes Handeln." Schmitz folgert deshalb, dass die Ur-Rheinländer auch die Sprache kannten.

Sogar über den Verwandtschaftsgrad der frühen mit den heutigen Menschen geben die an der Colmantstraße gelagerten Knochen per Gen-Analyse Auskunft. Die Neandertaler lebten zwar vor mehr als 40 000 Jahren - eine Zeitspanne, über die normalerweise kein gentesttaugliches Material erhalten bleibt.

Glückliche Umstände retteten jedoch ein klein bisschen des kostbaren Erbguts. Die Innentemperatur in Höhlen passt sich nämlich an die Durchschnittstemperatur der Außenwelt an - im Neandertal waren das etwa acht bis neun Grad. "Das Skelett lagerte also die meiste Zeit bei Kühlschranktemperatur", sagt Schmitz. "Außerdem war es in dichten Lehm eingepackt."

Um die uralten Gene zum Sprechen zu bringen, untersuchte das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie die "Mitochondrien" des Neandertalers: Nebenbestandteile der Zelle mit eigenen Gen-Strängen - zwar kleiner, aber in so großen Mengen vorhanden, dass selbst nach Jahrzehntausenden noch genügend übrig sind.

Dafür mussten die Forscher allerdings ein Stück herausschneiden - etwa zwei Zentimeter lang und einen halben breit. "Heute bräuchte man nicht mehr so viel", sagt Fred Smith. "Die Technologie ist vorangeschritten."

Dem unschätzbar wertvollen Urmenschen-Fund mit der Säge zu Bein zu rücken, hat sich gelohnt. Die Untersuchungen ergaben, dass der Homo neandertalensis wahrscheinlich kein direkter Vorfahr des heutigen Menschen ist - sozusagen nicht unser Urgroßvater, sondern Urgroßonkel.

Für Ralf Schmitz ändert das nichts an der Faszination, die von den berühmten Vorzeit-Rheinländern ausgeht. "Egal, was der Disput ergibt: Der Neandertaler ist das Wesen, das mit uns am nächsten verwandt ist. Er ähnelt uns zu 99,99 Prozent - wahrscheinlich kann man noch ein paar weitere Neunen dransetzen."

Literaturtipp: Bärbel Auffermann, Jörg Orschiedt: Die Neandertaler. Theiss-Verlag Stuttgart, ISBN 3-8062-1514-6. 112 S., 26 Euro, im Landesmuseum erhältlich.

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