Grenzritt in den Fesseln einer winzigen Rüstung

Der Historiker Thilo Offergeld untersuchte in Bonn die "Amtsführung" der Könige im Kindesalter

Bonn. Der kleine Mensch versinkt fast in den samtenen Kissen auf dem goldenen Thron. Priester rezitieren Gebete, Weihrauch wallt. Verständnislos lässt das Kind die quälend langen Zeremonien über sich ergehen, spielt mit dem wallenden Vorhang des Palastes - und stößt dahinter halb verblüfft, halb erschrocken auf eine Heerschar von Höflingen, die sich zu Hunderten huldigend vor ihm niederwerfen.

Passionierten Kinogängern ist sie vielleicht noch in Erinnerung, die Krönungsszene aus Bernardo Bertoluccis Film "Der letzte Kaiser". Zwei Jahre jung war der kleine Pu Yi, als er im Jahre 1908 den Drachenthron des alten China bestieg.

Doch auch in Europa gab es Herrscher, die kaum den Windeln entwachsen waren: Sechs Jahre lang hat der Historiker Thilo Offergeld am Historischen Seminar der Bonner Uni über kindliche Könige des Mittelalters geforscht. Jetzt ist seine Dissertation in der Schriftenreihe der "Monumenta Germaniae Historica" als Buch erschienen.

Ein Dreijähriger am Schreibtisch des Bundeskanzlers? Ein unreifer Knabe im Oval Office in Washington? Heutzutage beschäftigen solche Gedanken höchstens das Polit-Kabarett. In den Erbmonarchien der vormodernen Zeit dagegen kam es immer wieder einmal vor, dass ein Königssohn als Minderjähriger den Thron eines Riesenreichs bestieg.

Ein folgenschwerer Schritt vor allem in der Zeit des Mittelalters, als vom König noch eine persönlich, sozusagen handgreiflich ausgeübte Herrschaft erwartet wurde. "Der Staat bestand damals nicht aus Institutionen und Bürokratie, sondern war ein Personenverband", erläutert Offergeld. "Krass gesagt, war er ursprünglich eine Gruppe von Leuten, die durch die Gegend zogen und das Schwert schwangen.

König wurde, wer am besten reiten und kämpfen konnte." Bei seinem Tod ging die Herrscherwürde, sofern die Erbfolge gesichert war, auf seinen Sohn über - unabhängig davon, wie alt oder wie jung der war.

Offergeld hat Leben und "Amtsführung" von mehr als 30 Kindkönigen untersucht - vom Ostgotenherrscher Vidirich zu Beginn der Völkerwanderungszeit bis zu Kaiser Heinrich IV. (1056-1105). Dazu analysierte er Urkunden, Chroniken und Bildquellen - etwa Abbildungen der Herrscher auf Siegeln und Münzen oder Illustrationen alter Handschriften.

Eine schwierige Aufgabe, weil das Mittelalter keine individuellen Porträts kannte: Der König wurde gezeigt, wie er aussehen sollte, nicht wie im wirklichen Leben. Wenn die Maler ein Kind darstellten, lässt sich das nur indirekt erkennen - etwa, wenn sie den Herrscher ohne Bart auftreten ließen.

Tatsächlich regierte an Stelle des unerfahrenen Monarchen meist der engste Zirkel des vorherigen Königs, häufig auch die Witwe des Verstorbenen. "Auch die konnten ihre Macht aber nicht ausüben, ohne den König vorzuzeigen", so der Historiker. Offiziell vollzog alle Rechtsakte nach wie vor der König - und sei es nur dadurch, dass er den letzten Strich in die vorbereitete Unterschrift auf einer vorbereiteten Urkunde setzte.

Auch sonst kam es bisweilen zu bizarren Szenen: So wurde Ludwig der Fromme, ein Sohn Karls des Großen, im Jahre 781 als Dreijähriger König von Aquitanien. Um sein Reich symbolisch in Besitz zu nehmen, musste er die Grenze zu Pferd überqueren - zu diesem Behufe auf dem Rücken des Vierbeiners in einer winzigen Rüstung festgeschnallt.

Aber auch kleine Könige werden erwachsen - und allmählich versuchen sie, selbst zu regieren. Der Historiker erkennt es daran, dass am Hofe plötzlich neue Personen auftauchen oder Anzeichen für eine neue politische Strategie erkennbar werden.

Offergeld nennt als Beispiel den 983 gekrönten Otto III. (980-1002): "Bei ihm ist schon mit etwa 14 Jahren ein politisch eigenständiges Denken erkennbar." Trotz aller Ausnahme-Talente gelang es den Jung-Herrschern nur selten, eigene Ideen auf Dauer durchzusetzen. Offergeld: "Der Kindkönig konnte in der Regel nicht die gleiche Macht behaupten wie sein Vater vor ihm."

Sehr häufig starben die jungen Herrscher zudem früh und kinderlos. Ob es an der Belastung lag, als Machtobjekt hin- und hergeschoben zu werden? Der Historiker wagt kein Urteil: "Darüber kann man nur spekulieren."

Das Machtvakuum an der Spitze ließ zu Beginn des 10. Jahrhunderts die Herzogtümer als Zwischeninstanzen erstarken und beförderte auf Dauer die gedankliche Loslösung der Herrschaft von der konkreten Person des Herrschers. Ein Phänomen dieses Veränderungsprozesses war der Übergang vom Erb- zum Wahlkönigtum im Hochmittelalter.

Auch hier markiert die Geschichte der kindlichen Königssöhne ein entscheidender Punkt: Nach dem Tode Konrads III. 1152 folgte ihm sein Neffe Friedrich Barbarossa auf den Thron - seinen fast sieben Jahre alten Sohn Friedrich von Rothenburg ließen die Großen des Reiches links liegen.

Thilo Offergeld: Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter. Schriftenreihe der Monumenta Germaniae Historica. Hahnsche Buchhandlung, Hannover. 90 Euro

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