E-Mails rauben dem Professor die Zeit

Der 70-jährige Nobelpreisträger Reinhard Selten erhielt den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen - Der Katzenliebhaber arbeitet auch heute noch an der Spieltheorie

Bonn. Über Nacht war der Bonner Wirtschaftstheoretiker 1994 berühmt geworden. Für seine herausragenden Beispiele zur Spieltheorie verkündete die schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm, dass Professor Reinhard Selten als erstem Deutschen der Nobelpreis im Fach Wirtschaftswissenschaften zuerkannt wurde. "Damit hatte ich selbst am wenigsten gerechnet", erzählt er auch heute noch nicht ohne Stolz. Am Montag hatte er erneut Grund zur Freude: Ministerpräsident Wolfgang Clement zeichnete ihn mit dem Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen aus. Selten teilt die mit 50 000 Mark dotierte Auszeichnung mit dem in Köln lebenden Maler Professor Gerhard Richter.

Noch zwei Mal pro Woche fährt der heute 70-Jährige von seinem Haus in Königswinter-Ittenbach ins Labor, ansonsten arbeitet er zuhause. Und zwar mit Papier und Bleistift, denn obwohl seine Forschungen ohne das Computer-Netzwerk im Laboratorium nicht denkbar wären, in sein Haus hat der PC noch nicht Einzug gehalten. "Aber ich will mir jetzt doch einen zulegen," verriet er dem GA, "wegen des Internet-Zugangs". E-Mails wolle er nicht empfangen: "Das würde mir zuviel Zeit rauben. Ich weiß von Kollegen, die sich täglich eine halbe Stunde oder länger mit dem Lesen ihrer E-Mails beschäftigen."

Seit der Nobelpreis-Verleihung hat sich das Leben des zurückhaltenden Wissenschaftlers verändert: "Ich werde öfter zu Vorträgen vor großem Publikum eingeladen, und nach wie vor werde ich von Journalisten angerufen, die meine Einschätzung zu Aktienkursen oder anderen aktuellen Wirtschaftsfragen wissen möchten." Das, zusammen mit den vielen Tagungen im In- und Ausland, die er laufend besucht, bringt ihn manchmal in zeitliche Konflikte, denn er will mit seinen Forschungen noch entschieden weiter kommen: "Die deskriptive Theorie steht erst am Anfang. Das ist eine Sache für die Zukunft." So arbeitet Selten an einer Verhaltenstheorie der Finanzmärkte. Selten wendet die Spieltheorie aber auch auf eher entfernte Gebiete an und arbeitet interdisziplinär unter anderem mit Mathematikern, Psychologen, Soziologen und Biologen zusammen. So verfasste er Arbeiten zur Linguistik, zur Kriminologie und zur Botanik.

"In der Biologie beschäftigen mich Fragen wie: Warum geben Blumen Nektar? Wie wählen Bienen die Pflanzen aus, die sie besuchen?", sagt Selten. Oder: Warum sind manche Pflanzen prächtig, andere aber unscheinbar? "Auch all dies kann mit Hilfe der Spieltheorie besser verstanden werden." Dabei kommen Seltens botanische Vorlieben zu Tage: Allzu gern wandert er offenen Auges durch die Natur, stets auf der Suche nach Wildblumen, die er dann zu bestimmen versucht. Aber er liebt auch Tiere: Weltbekannt sind seine Katzen von Mietzi und Burschi bis zu Chui und Chui Junior, seitdem seine Mitarbeiter sie per Link mit seiner Homepage "verewigten". Selten verschmitzt: "Das ist die meist besuchte Seite".

Besonders freut den Nobelpreisträger, dass er den Staatspreis des Landes für seine experimentellen Forschungen am neuen ökonomischen Menschenbild erhalten habe, die über die herkömmliche Spieltheorie weit hinausgehen und dem "homo oeconomicus" realistischere Züge verliehen haben. Die Spieltheorie ist eine mathematische Methode zur Analyse von Konfliktsituationen, die seit der Pionierarbeit John von Neumanns und Oskar Morgensterns 1944 vor allem in den Wirtschaftswissenschaften Bedeutung erlangt hat. Sie überträgt Erkenntnisse über menschliches Verhalten bei Gesellschaftsspielen wie Schach oder Poker auf den Marktprozess. Verbraucher und Unternehmer, aber auch staatliche Institutionen wie zum Beispiel das Kartellamt, werden als "Spieler" aufgefasst, die Entscheidungen in unsicherem Umfeld zu treffen haben und dazu eine erfolgversprechende, Erwartungshaltungen der Gegenspieler mit einbeziehende Strategie benötigen. Den Nobelpreis, den er mit den amerikanischen Spieltheoretikern John Charles Harsanyi und John F. Nash teilte, hatte Selten für zwei Artikel erhalten, die 1965 und 1975 erschienen waren und ein entscheidender Durchbruch für die Spieltheorie waren, weil dadurch wesentlich präzisere und sinnvollere Vorhersagen möglich wurden.

Doch eines störte Selten an der Theorie: Sie ließ Aussagen darüber zu, wie sich Anbieter, die eine Branche dominieren, verhalten würden - unter der Voraussetzung, dass sie vollständig rational handelten. Selten: "Man hatte es in dieser rationalen Spieltheorie ausschließlich mit Idealtypen zu tun. Doch der ursprüngliche Glaube, dass die Abweichungen von der Realität dennoch gering seien, dass man das tatsächliche Verhalten erschließen könne, hat sich inzwischen als Illusion erwiesen." Selten beschäftigte sich deshalb immer intensiver mit der so genannten deskriptiven Theorie, der das Verständnis zu Grunde liegt, dass menschliches Verhalten durch eingeschränkte Rationalität bestimmt ist.

Vor 30 Jahren führte Selten die experimentelle Wirtschaftsforschung in Deutschland ein, bei der Versuchspersonen unter kontrollierten Bedingungen Entscheidungen in ökonomisch relevanten Situationen zu treffen haben. Ziel der Experimente ist es, durch Auswertung der beobachteten Daten zu Theorien vorzudringen, die das Verhalten besser erklären können als die immer noch vorherrschende rationale Theorie. Im Rahmen des inzwischen ausgelaufenen Sonderforschungsbereichs 303 "Information und Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten" gründete Selten 1984 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Uni Bonn das Laboratorium für experimentelle Wirtschaftsforschung, die älteste Einrichtung dieser Art in Europa, die inzwischen an allen angesehenen Hochschulen Standard ist. Dort werden Studierende als Versuchspersonen an PCs unter kontrollierten Bedingungen vor ökonomische Entscheidungssituationen gestellt, etwa bei Verhandlungen oder Auktionen. Ihr Verhalten im Experiment erlaubt Rückschlüsse darauf, nach welchen Maßstäben sich Menschen im realen Wirtschaftsleben, unter den Bedingungen eingeschränkter Rationalität, tatsächlich entscheiden.

Auch nach seiner Emeritierung 1996 ist Reinhard Selten Direktor des Laboratoriums für experimentelle Wirtschaftsforschung geblieben und wird dies "noch eine Weile" sein.

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