Universität Bonn Die stummen Zeugen der Klima-Achterbahn

Bonn · Wer beim Klima in die Zukunft blicken will, muss zuerst tief in die Vergangenheit schauen - und das so zuverlässig wie möglich. Am schlammigen Boden des türkischen Vansees bohrten sich Wissenschaftler jetzt 600.000 Jahre zurück. Das ist eine Art "Asien-Festland-Rekord" und schlägt den Eisbohrkern aus Grönland um viele Jahrhunderttausende

Das Klima ist ein wildes unberechenbares Tier", hat Wallace Broecker einmal in seinem Fachartikel "Unpleasant Surprises in the Greenhouse" (unangenehme Überraschungen im Treibhaus) geschrieben. "Und wir piksen es mit Stöcken und reizen es." Das war vor fast 30 Jahren, als der US-Ozeanograph Broecker befürchtete, dass die klimaschädlichen Ausdünstungen der Zivilisation eines Tages den wärmenden Nordatlantikstrom, einen Seitenarm des Golfstroms, stoppen könnten. Die unangenehme Überraschung wäre, dass Teile Nordamerikas und Europas inmitten einer aufgeheizten Erde kühler werden könnten. Das übersteigerte Szenario dieser Annahme fand sich später in Roland Emmerichs Hollywood-Film "The Day After Tomorrow" (2004). Erst flutet ein Tsunami New York, dann wird die Millionen-Metropole schockgefroren.

Seit Broeckers düsterer Prophezeiung läuft die Klimaforschung auf Hochtouren. Wissenschaftler fahnden mit viel Hightech und noch mehr Spürsinn nach Spuren des Klimas vergangener Zeiten: Wie war es vor 5.000, vor 100.000, vor Jahrmilllionen? Was löste den Wechsel von Warm- und Kaltzeiten aus? Ging es allmählich zu oder sprunghaft? Welche Rolle spielt die Sonne? Die Lage der Kontinente? Nur wer Teile vergangener Klimaschwankungen verlässlich entschlüsselt, kann die Kraft seiner Prognose stärken.

Eine Eiszeit war keine monotone Dauerfrost-Veranstaltung

Über die Vergangenheit zur Zukunft: Dieses Ziel verfolgen auch europäische und amerikanische Forscher, als sie sich 1989 im Rahmen des GRIP-Projekts (Greenland Icecore Program) nach Grönland aufmachen. Dort bohren sie sich (s. "Der Krimi aus dem Eis") Meter für Meter bis zum Felsgrund vor. Nach drei Jahren Bohrzeit haben die Forscher einen 3029 Meter langen Eisbohrkern mit bis zu 140.000 Jahre alten Gasbläschen gezogen. Deren Analyse und die Deutung der Datenreihe schockt: Eine Eiszeit war keine monotone Dauerfrost-Veranstaltung, sondern das Klima machte auf der Nordhalbkugel rätselhafte Sprünge - und erscheint tatsächlich wie "ein wildes Tier".

Während sich über die Mini-Luftblasen der Eisbohrkerne die Zusammensetzung der Erdatmosphäre vergangener Tage bestimmen lässt, steuern andere stumme Zeugen - Tiefsee-Sedimente, Pollen, Baumringe - andere Einsichten bei. Ein bisschen lässt sich die Rekonstruktion klimatischer Bedingungen von einst mit dem gigantischen Puzzlespiel der Paläoanthropologen vergleichen, die in Sisyphusmanier die Menschheitsgeschichte entschlüsseln. Sie finden hier Teile eines uralten Schädels, dort einen Wirbelknochen und wieder woanders sogar ein gut erhaltenes Skelett und bestimmen nach jahrelanger Detektivarbeit die Zeitspanne, ab der der Mensch den aufrechten Gang beherrschte und nicht mehr gebückt durch die Savanne streifte.

Doch alle Klimaarchive sind mehr oder weniger vom Zahn der Zeit bedroht: Chemische Prozesse zerstören manchen Zeugen völlig oder so weit, dass er für einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn nicht mehr taugt. Besonders rar sind Ablagerungsschichten an Land, wo Verwitterung und Erosion quasi nonstop ursprüngliche Zustände vernichten.

Ein See ohne wuseliges Leben und deshalb ideal

Deshalb empfinden Forscher den im Osten der Türkei liegenden Vansee, sieben Mal so groß wie der Bodensee, auch als Schatzkammer. Ein ruhiger See, auf dessen Grund die Naturkräfte seit Urzeiten die Sedimente wie die Seiten eines Buches fein säuberlich übereinander gelegt haben. Auch keine Muscheln, Würmer, Krebse oder Schnecken durchwühlen den Seegrund und bringen die Reihenfolge der "Seiten" durcheinander. Es gibt kein Leben mehr am Seegrund, dessen Wasser inzwischen fast so salzhaltig ist wie das des Ozeans. Geradezu ein idealer See für Thomas Litt, Professor für Paläobotanik am Steinmann-Institut der Universität Bonn und Leiter des internationalen Forscherkonsortiums Paleovan. Rund fünf Jahre dauerte das gesamte Projekt, nun wurden die Ergebnisse im Fachmagazin "Quaternary Science Reviews" in mehreren Artikeln veröffentlicht.

"Der See hat aufgrund seiner Lage ein lückenloses Klimaarchiv über mehrere Jahrhunderttausende hinweg", sagt Litt, "denn dieses Gebiet in Südost-Anatolien war auch während der Kaltzeiten nie vergletschert." Das sei in der nördlichen Hemisphäre "recht einmalig" für einen See. Deshalb fand das Projekt nicht nur viele wissenschaftliche Mitstreiter, sondern auch viele Geldgeber (s. "Fakten").

"In den Bohrkernen sind die jährlichen Schichten ausgezeichnet sichtbar und zeitlich hochaufgelöst", sagt Litt. Wie Baumringe ein Geschichtsbuch bilden, verhält es sich auch bei den jahreszeitlichen Ablagerungen. Hell, dunkel, hell, dunkel. In den Sommermonaten verdunstet Seewasser und der her-ausgefällte Kalk rieselt auf den Grund, das Ganze vermischt mit Abermillionen Pollenkörnern. Die Forscher sagen dazu "helle Sommerlage". Über die legt sich im Winter, der Regenzeit, eine aus umliegenden Gesteinen und Böden herausgespülte dunkelbraune Schicht, in der Ton und Schluff dominiert. Das ist dann die "dunkle Winterlage". Und das über Zeiträume, die wie die Ewigkeit anmuten. Jahr für Jahr, Sommer für Sommer, Winter für Winter. Konkreter: Haben die Forscher zehn Meter tief gebohrt und die Sedimente an Bord der Plattform gezogen, halten sie rund 20.000 Jahresschichten in ihren Händen.

Doch schon nach der ersten Probebohrung und deren Auswertung stieg das Forscherfieber. Es zeichnete sich ab, dass die Schatzkammer am Seegrund mehr als das Erwartete enthielt: Die Hell-Dunkel-Hell-Dunkel-Abfolge in den Sedimenten war an manchen Stellen plötzlich durch pechschwarze Ascheschichten unterbrochen. Die umliegenden Vulkane grüßen aus der Vergangenheit. [kein Linktext vorhanden]

15 Vulkanausbrüche in den letzten 20.000 Jahren

"Schon bei der Probebohrung haben wir in den letzten 20.000 Jahren 15 Ausbrüche gezählt", sagt Litt. Die Zusammensetzung der Asche verrate sogar, von welchem Vulkan was stammt.

Ursprünglich wollte man in dem erbohrten Material 400.000 Jahre Klimageschichte entschlüsseln, nun sind es gar 600.000 Jahre geworden, verteilt auf ein rund 800 Meter (Gesamt-Bohrkernlänge) langes, erdhaltiges Geschichtsbuch. Ein Rekord für das asiatische Festland: Nie lieferte dort ein Stück Erde tiefere Einblicke in das Klima der Vergangenheit.

Dann beginnt die Laborarbeit: die Analyse von rund 5.000 Proben aus dem erbohrten Erdreich. Zunächst wird das Alter jeder Schicht radiometrisch bestimmt. Reine Routine: Die Wissenschaftler nutzen den Zerfall radioaktiver Elemente wie eine geologische Uhr. Schließlich startet die Erkundung jeder auf dem Seegrund zusammengerieselten Schicht, indem man mit einer groben Spritze Material, flankiert von Fluss- und Salzsäure, aus dem Bohrkern löst und einen Glasabstrich nimmt. Den schieben Litt und Mitarbeiter unter ein Mikroskop.

200.000 Pollen in einer Probe im Format eines Würfelzuckers

Erst hier werden die sonst mit dem bloßen Auge unsichtbaren Pollen sichtbar. Eine Sedimentprobe im Format eines Stück Würfelzuckers enthält zum Beispiel bis zu 200.000 Pollenkörner. Wenn es unter dem Mikroskop interessant wurde, sagt Litt, "dann haben wir dem Bohrkern an jedem Zentimeter Material entnommen und erreichten so eine zeitliche Auflösung von wenigen Jahren". Welcher Pollen für welche Pflanze - Eiche, Ölbaum, Kiefer, Schafgarbe? - steht, erkennen Paläobotaniker sofort. Was wie ein Kinderspiel anmutet, ist jedoch Handarbeit und benötigt methodisch "Benediktiner-Geduld" (Litt): Pollen, Pflanze, Niederschlag, Temperatur, Klima. Das ist die Reihenfolge der Erkenntnisse.

"Die Ergebnisse zeigen, dass das Klima in den vergangenen Hunderttausenden Jahren auf der Nordhalbkugel Achterbahn gefahren ist", berichtet Litt. "Innerhalb weniger Jahrzehnte konnte es kippen und von Eiszeit auf Warmzeit und umgekehrt umschalten." Der lückenlose Kalender umfasst insgesamt sechs Zyklen aus warmen und kalten Perioden und erzählt eine Geschichte der natürlichen Klimaschwankungen, die zeitlich synchron zu den periodischen Schwankungen der Erdbahn um die Sonne verlaufen.

Spannend wird es im Forscheralltag, wenn das Gefundene über das Erwartete hinausreicht. Eine Vulkanasche-Ablagerung misst ungewöhnliche zehn Meter. "Das zeigt, dass es vor rund 270.000 Jahren ordentlich gerumst hat", sagt Litt. Insgesamt unterbrechen 300 unterschiedliche Tufflagen die ansonsten regelmäßige Hell-Dunkel-Schichtenabfolge im Bohrkern. Mit anderen Worten: 300 explosive Vulkanausbrüche in etwa 600.000 Jahren, im Durchschnitt also einen pro 2000 Jahre.

Manchmal sind einzelne Sedimentschichten auch zerrissen und verschoben, als hätte es den ganzen riesigen Vansee förmlich durchgeschüttelt. Auch starke Erdbeben haben also ihre Spuren im Bohrkern hinterlassen. Für die türkischen Forscherkollegen haben diese Erkenntnisse durchaus einen praktischen Nutzen für die Gegenwart, zeigt der Bohrkern doch, wie sehr die Gegend um den Vansee alles andere als ein ruhiger Erdwinkel ist. "Zudem ist sie dicht besiedelt", sagt Litt. So verändere der jetzt erbrachte Nachweis erhöhter Vulkan- und Erdbebenaktivitäten auch die Risikoabschätzung für das Leben rund um den See. Erst im Oktober 2011 waren durch ein Beben mit der Stärke 7,2 mehr als 500 Menschen ums Leben gekommen und rund 2500 verletzt worden.

Zwar liegen Grönland und Türkei rund 6500 Kilometer voneinander entfernt, doch die Botschaften aus dem Eisbohrkern und den Vansee-Warven korrespondieren miteinander. Man habe in den Ablagerungen im Vansee, sagt Litt, auch "ein statistisch schwaches Signal" jener Dansgaard-Oeschger-Ereignisse (siehe "Krimi aus dem Eis) gefunden, die für 23 plötzliche Erwärmungs- und Abkühlungsphasen stehen und im Klimamaßstab nur kurz dauerten.

Aktuell steht der Golfstrom und sein nordöstlicher Arm unter besonderer Beobachtung - also jene Zentralheizung Europas, die auf dem 49. Breitengrad auf Guernsey im April die Pflanzenwelt blühen lässt, während einige Tausend Kilometer weiter östlich und ebenfalls auf dem 49. Breitengrad Eisberge vor Neufundland treiben. Die jüngste Studie dazu veröffentlichte ein Forscherteam um Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) im Fachmagazin "Nature Climate Change". Tenor: Die warme Strömung aus den Tropen habe sich im 20. Jahrhundert abgeschwächt.

"Verblüffenderweise hat sich trotz fortschreitender globaler Erwärmung ein Teil des nördlichen Atlantiks abgekühlt", wird Rahmstorf in einer PIK-Mitteilung zitiert. Als Ursache wird der Klimawandel verdächtigt und der damit verbundene höhere Süßwassereintrag aus Grönlands Eismassen. "Dieser Effekt könnte noch zunehmen, wenn die weltweiten Temperaturen weiter ansteigen", sagte Jason Box von der Geologischen Forschungsanstalt für Dänemark und Grönland und Mitautor der Studie.

Gleichzeitig glauben die Forscher nicht, dass ein nachlassender Golfstrom einen so starken Kühleffekt für Europa erzeugt, dass er den grundsätzlichen Erwärmungstrend bricht. Der PIK-Studie widersprach Klimaforscher Martin Visbeck vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Es gebe auch andere wissenschaftliche Studien und Schätzungen. Im Zentrum des Interesses steht die Atlantische Meridionale Umwälzbewegung (AMOC), von der der Golfstrom nur ein Teil ist. So hatte das Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg 2012 das Gegenteil - eine stabile Atlantikzirkulation - vorhergesagt.

Es bleibt kompliziert, denn das Klima wird, wie einzelne seiner Kräfte (AMOC), sowohl von natürlichen Faktoren und Zyklen als auch menschlichen Aktivitäten (Treibhausgase) beeinflusst, und beide überlagern sich. Und es scheint, je mehr man via Vansee- oder Grönland-Studien weiß, desto mehr Fragen stellen sich.

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