Bürgerkrieg Bonner Wissenschaftlerin dokumentiert Arabischen Frühling im Jemen

BONN · Ein Staat am Rande der Anarchie? Ein Rückzugsraum für islamistische Gewalttäter? Das tödliche Attentat auf einen Bundespolizisten hat die Aufmerksamkeit wieder auf den Jemen gelenkt: Manchen gilt er inzwischen als Risiko für die Stabilität einer ganzen Weltregion.

 Islamwissenschaftlerin Marie-Christine Heinze von der Universität Bonn mit traditionell gekleideten Bräutigamen in Bayt Baws im Jemen.

Islamwissenschaftlerin Marie-Christine Heinze von der Universität Bonn mit traditionell gekleideten Bräutigamen in Bayt Baws im Jemen.

Foto: Stephen Gracie

Marie-Christine Heinze vom Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn ist Expertin für das südarabische Land und beobachtet seit zwei Jahren seinen steinigen Weg zu neuem politischem Gleichgewicht. "Wer alle Gewalt auf Al-Kaida schiebt, macht es sich zu einfach", sagt sie.

Das "glückliche Arabien" (Arabia felix): Der jahrhundertealte Beiname des Jemen scheint derzeit durch nichts gerechtfertigt. Kriminalität und politische Gewalt grassieren. Doch wieso? "Um zu dieser Debatte beitragen zu können, brauchen wir ein besseres Verständnis des dortigen Umbruchprozesses", sagt Heinze.

Die Islamwissenschaftlerin untersucht derzeit die Demokratiebewegung in der Hauptstadt Sanaa. Die Volkswagen-Stiftung fördert das mit 229.400 Euro. Nicht nur in Kairo, auch in Sanaa gibt es einen "Tahrir-Platz", einen "Platz der Befreiung" - und als der Arabische Frühling den Jemen erreichte, ließ Präsident Ali Abdullah Salih "seinen" Tahrir-Platz vorsichtshalber von eigenen Anhängern besetzen. Die Demokratiebewegung machte im Gegenzug den Platz vor der Universität Sanaa zum "Taghyir-Platz", zum "Platz des Wandels": Es entstand eine Art Demokratielabor aus Zelten, Bühnen und Rednertribünen.

Heinze und ihre Partner vom Yemen Polling Center verfolgten mit, wie Gegenwart zur Geschichte wurde. Sie zeichneten Landkarten der Zeltstadt, dokumentierten die Manifeste der Demonstranten, sammelten Freitagspredigten und die auf den Rednertribünen rezitierten Gedichte.

Mit der Beendigung von Präsident Salihs Regentschaft im Februar 2012 begann der verwickelte Wandel erst richtig: In einem Nationalen Dialog versucht seither eine Vielzahl von Parteien, sich auf politische Reformen zu einigen. Beteiligt sind Anhänger und Gegner des Ex-Präsidenten; die Sunniten und Repräsentanten der schiitischen Huthis aus dem Norden des Landes; Muslimbrüder, Salafis und westlich orientierte Intellektuelle. Der gebirgige Norden, wo die Regierung kaum Macht hat. Der ehemals sozialistische Süden, der sich seit der Wiedervereinigung vor 23 Jahren dauerhaft benachteiligt fühlt. Der von Wüsten beherrschte Osten, wo die wichtigen Ölquellen liegen.

"Gerade wegen der komplexen Lage rät Marie-Christine Heinze zu einer differenzierten Sicht der Dinge - auch was den Mord an dem deutschen Botschaftsmitarbeiter angeht", teilt die Uni Bonn mit. Heinze: "Es gibt Al-Kaida im Jemen. Sie ist stärker als früher. Wer aber alles auf Al-Kaida schiebt, macht es sich zu einfach. Die derzeitige Unsicherheit im Lande, die auch Ausländer betrifft, geht auf das Konto unterschiedlicher Akteure und man muss im Einzelfall untersuchen, wer dahintersteckt."

Die Forscherin steht in Kontakt mit Freunden und Bekannten im Jemen und verfolgt das Geschehen genau. Letztmalig war sie im September dieses Jahres für drei Wochen im Lande. Der Kampf um politischen Einfluss und die Ressourcen des Landes: "In solche Kämpfe um strategisch wichtige Punkte sind zahlreiche politische Akteure des Jemen verstrickt."

Das alles ist kein gutes Umfeld für den Demokratieprozess, so Heinze. Sie dokumentiert weiterhin den "Platz des Wandels": Die Zeltstadt ist bis auf kleine Reste verschwunden. "Manche Gruppe ist Teil der Übergangsregierung geworden, manch andere hat frustriert aufgegeben." Hier sieht die Bonner Expertin einen Ansatzpunkt, die ausufernde Gewalt im Lande zu erklären. "Die Leute warten seit fast drei Jahren auf Veränderungen, aber sie sehen keine." Stattdessen gebe es "eine wirklich dramatische humanitäre Krise": Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, ein signifikanter Anteil der Bevölkerung hungert.

Eigentlich hätte der Nationale Dialog im September ein Abschlussdokument verabschieden sollen. Daraus wurde nichts, weil die Vertreter des Südens und der Huthis im Norden die Gespräche derzeit boykottieren. "Der Jemen steht am Scheideweg", sagt Heinze. "Falls es nicht gelingt, das überaus komplexe Gleichgewicht der verschiedenen Interessengruppen neu auszuhandeln, droht ein Bürgerkrieg. Alle Beteiligten wissen, dass sie dann alle gemeinsam verlieren." Die Forscherin pflegt verhaltenen Optimismus. "Ich setze auf die Vernunft der Jemeniten. Was dort geschieht, wird selten durch Ideologie bestimmt, sondern durch viel Pragmatismus."

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