Universität Bonn Aufzeichnungen über Leben und Kultur in den Anden entdeckt

BONN · Wie verändern sich traditionelle Gesellschaften durch den Kontakt mit der Moderne? Das lässt sich nur sagen, wenn man weiß, wie sie vorher ausgesehen haben.

 Unterwegs in den Anden: Die bäuerliche Kultur hat sich durch die Globalisierung verändert.

Unterwegs in den Anden: Die bäuerliche Kultur hat sich durch die Globalisierung verändert.

Foto: dpa

Für die bäuerliche Kultur des Chancay-Tales in Peru ist das nun einfacher geworden: Mit Hilfe der Uni Bonn hat ein peruanischer Anthropologe jetzt 50 Jahre alte Aufzeichnungen aus dieser Region dem Vergessen entrissen. Mit Hilfe der Universität Bonn wurden Aufzeichnungen über Leben und Kultur in den Anden dem Vergessen entrissen.

Jahrhundertelang hat das kleine Bauerndorf irgendwo im Gebirge vor sich hingeschlummert. Friedlich pflegten die Einwohner ihre uralten Traditionen. Dann kam eine Straße. Dann der elektrische Strom. Dann der erste Fernseher. Und heute, nur wenige Jahre später, erkennen die Einwohner sich selbst nicht wieder.

Wie sich angestammte Gesellschaften durch den Einfluss der weltweiten Einheitskultur verändern, ist einer der Forschungsgegenstände der Anthropologie - und für solche Untersuchungen bedarf es der Beschreibung, wie solche Gesellschaften aussahen, bevor Straße, Strom und Fernseher kamen.

"Die ethnographische Lücke füllen", nennt das der Anthropologe Dr. Juan Javier Rivera Andía. Für seine eigene Heimat, die peruanischen Anden, hat er dies getan: Er hat die lange verschollenen Aufzeichnungen eines Fachkollegen wiederentdeckt und herausgegeben. Die letzten Steinchen dieses akademischen Puzzles legte er an der Universität Bonn, am Institut für Archäologie und Kulturanthropologie. Unterstützt wurde das durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung.

Die wiederentdeckten Aufzeichnungen stammen von dem peruanischen Anthropologen und Musiker Alejandro Vivanco Guerra (1910-1991). Sie überliefern Alltagsbräuche und Musik, Mythen und Legenden, kulturelles und religiöses Leben der bäuerlichen Kultur am Chancay-Fluss: Der ist knapp 120 Kilometer lang und mündet nördlich von Lima in den Pazifik.

"Mindestens drei Mal" bereiste Vivanco diese Region, sagt Andía. Ob es weitere Reisen gab, ist nicht sicher, weil drei Notizhefte verschollen sind. Das Besondere: Vivanco war "der einzige Forscher, der tatsächlich die Sprache der Menschen dort sprach": das Quechua, die frühere Sprache des Inkareiches und noch immer drittmeistgesprochenes Idiom Südamerikas.

Schon das jetzt vorliegende Dutzend Notizbücher zu finden, geriet laut Andía zu "einer Art Schatzsuche". Als er 1999 selbst eine erste Reise ins Chancay-Tal unternahm, fiel ihm auf, "dass Vivanco über seine Studien nur sehr wenig publiziert hatte. Ich fragte mich, warum." Andía war überzeugt, dass Vivanco Aufzeichnungen hinterlassen haben musste.

"In keiner Veröffentlichung, in keinem Vortrag hatte zuvor irgendjemand die Existenz solcher Aufzeichnungen erwähnt." Andía forschte nach Hinterbliebenen des Wissenschaftlers und machte schließlich seine Witwe ausfindig - und in deren Haus fanden sich Vivancos Dokumente tatsächlich.

Juan Javier Rivera Andía hat die Notizbücher Seite für Seite ebenso ins Reine geschrieben wie die vielen Musikbeispiele, die Vivanco, ein passionierter Spieler der indianischen "Quena"-Flöte, in der Chancay-Region aufgezeichnet hat. Wenn Informationen zu einzelnen Themengebieten über die Hefte verstreut waren, trug er sie zu Tabellen und Listen zusammen - zum Beispiel darüber, von welchen eingeborenen Gewährsleuten Vivanco seine Informationen empfing.

Ein besonders kniffliger Teil der Editionsarbeit war, die Quechua-Wörter zu übersetzen - denn der spezielle Quechua-Dialekt der Chancay-Region ist heute fast völlig ausgestorben. "Fast alles, was wir über das kulturelle Erbe dieser Region heute wissen, stammt von Alejandro Vivanco", sagt der Experte.

Vivancos Aufzeichnungen sind "ein akkurates Bild einer indigenen Kultur, die durch die Modernisierung der Gesellschaft sehr schnelle und tiefgehende Veränderungen erfährt." Dass dieses Wissen nicht erneut verloren geht, ist jetzt sichergestellt: Vivancos Notizhefte sind nun in der Bibliothek der Päpstlichen Katholischen Universität von Peru in Lima verwahrt.

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