Hochschulen für Angewandte Wissenschaften Präsident der HBRS verteidigt neues Promotionsrecht

Sankt Augustin · Der Präsident der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Professor Hartmut Ihne, verteidigt das neue Promotionsrecht der Fachhochschulen in NRW. Ein Interview.

 Noch hat Professor Hartmut Ihne den Studenten und Studentinnen seiner Hochschule keine Doktorhüte aufgesetzt. Seit Änderung der Gesetzeslage in NRW darf er es aber. „Spätestens 2021“ soll es soweit sein.

Noch hat Professor Hartmut Ihne den Studenten und Studentinnen seiner Hochschule keine Doktorhüte aufgesetzt. Seit Änderung der Gesetzeslage in NRW darf er es aber. „Spätestens 2021“ soll es soweit sein.

Foto: Hochschule Bonn-Rhein-Sieg

Ein alter Zopf des deutschen Wissenschaftssystems ist ab. Zumindest in NRW. Seit Oktober dürfen auch „Hochschulen für Angewandte Wissenschaft“ (HAWs, früher als Fachhochschulen bekannt) die Promotion anbieten, nicht mehr nur Universitäten.

Der Deutsche Hochschulverband befürchtet eine Abwertung des Doktortitels. Zu Unrecht, sagt Professor Hartmut Ihne, jüngst wiedergewählter Präsident der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS). Mit ihm sprachen Margit Warken-Dieke und Wolfgang Pichler.

Warum brauchen die HAWs das Promotionsrecht?

Hartmut Ihne: Die HAWs haben sich in den letzten 50 Jahren zu Einrichtungen hervorragender Wissenschaft entwickelt. Lehre, Forschung und Transfer stehen hier in einem befruchtenden Wechselbezug. Betrieben wird eine angewandte, innovationsorientierte Wissenschaft. Die Promotion gehört dazu, um angewandte Forschung vertiefen zu können. Das deutsche Wissenschaftssystem ist ausgezeichnet in der Grundlagenforschung. Wir brauchen aber auch nachhaltige Wirkungen in die Gesellschaft hinein. Eine starke angewandte Forschung hilft der Gesellschaft, Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu finden. Im Übrigen ist der Zugang zu einem großen Teil der Forschungsförderung davon abhängig, ob man das Promotionsrecht hat. Auch sagen manche Studierende: Wenn wir bei euch nicht promovieren können, gehen wir doch gleich dorthin, wo es geht.

Welches System galt bislang?

Ihne: Das gegenwärtige Modell in NRW basiert auf der kooperativen Promotion zwischen HAWs und Universitäten. Die H-BRS führt an ihrem Graduierteninstitut derzeit 93 Promotionen durch. Das Grundproblem ist aber, dass die HAWs sich immer wieder in einer Art Bittsteller-Position finden, denn sie entscheiden nicht selber, welche Promotion wie möglich ist. Es gibt zwar gute Beispiele der kooperativen Promotion, aber es gibt immer noch zu viele Hürden und Vorbehalte. Grundsätzlich ist es guter wissenschaftlicher Brauch, solche Verfahren eigenverantwortlich durchzuführen.

Wie haben Sie das Problem zu lösen versucht?

Ihne: Juristisch ist klar, dass das Promotionsrecht grundsätzlich kein alleiniges Privileg der Unis ist. Das Promotionsrecht gehört der gesamten Wissenschaft. Auch Kunst- und Musikhochschulen haben das Promotionsrecht. Wir haben in den letzten vier Jahren unser Graduierteninstitut NRW in Bochum aufgebaut, an dem inzwischen über 300 Kolleginnen und Kollegen von 21 staatlichen und staatlich-refinanzierten HAWs in NRW in Fachgruppen Promotionen betreuen und Forschungsaktivitäten vernetzen und verdichten. Der Zugang ist qualitätsgesichert mit Nachweisen für Drittmittel, Publikationen und Promotionen. Solche Kriterien gibt es längst nicht an jeder Uni.  Wir treten damit auch entschieden unfairen und törichten Behauptungen entgegen, es würde ein „Low-Level-Doktor“ entstehen.

Eine Art Klassendenken, oder?

Ihne: Solche Dinge kommen meist von Leuten, die die Wissenschaft an den HAWs nicht kennen. Ist denn angewandte Forschung zum Beispiel über Feinstaubausstoß eines Bremsbelags oder von Reifen weniger wert als Forschung über mittelalterliche Literatur oder Elementarteilchen? Zur Verringerung von Feinstaub mit einer Doktorarbeit beizutragen, ist doch ein wichtiger Beitrag zur Nachhaltigkeit! Wissenschaft muss auch Wirkungen in der Lebenswelt zum Ziel haben.

Sie regen eine Art „Nützlichkeits-Index“ der Forschung an?

Ihne: Wissenschaft als Ganzes muss beides umfassen: reine Erkenntnis und Nutzen für die Menschen. Die Universität Stanford zum Beispiel ist Spitze zugleich in der Grundlagen- und Anwendungsforschung sowie bei Innovationen. Stanford hat im Jahr 2017 1,8 Milliarden US-Dollar an Patentgebühren eingenommen, die wieder in die Wissenschaft fließen. Keine deutsche Hochschule kommt auch nur annähernd auf solche Zahlen. Am besten schneidet hier die Fraunhofer-Gesellschaft ab. Es geht also, zugleich sowohl „Impacts“ in der Scientific Community zu erreichen als auch in der Praxis. Wissenschaft auch für die und mit der Gesellschaft zu betreiben, halte ich für ethisch geboten.

Das Promotionsrecht für HAWs könnte also dazu führen, manche Elfenbeinturm-Wissenschaft auf den Boden zurückzuholen?

Ihne: Elfenbeinturm ist nicht per se schlecht, auch er hat große Bedeutung. Aber die angewandte, innovationsorientierte Forschung, die im Vergleich zur Grundlagenforschung weniger Geld aus den Wissenschaftshaushalten von Bund und Ländern erhält, zu stärken, ist eine wichtige Aufgabe. Die HAWs haben hier enormes, vielfach ungehobenes Potenzial. Wir wollen bessere Strukturen und Ressourcen. Die angewandte Forschung muss genauso unabhängig sein können wie die Grundlagenforschung.

Das scheint auf das Bohren sehr dicker Bretter hinauszulaufen.

Ihne: Ja, ein mühevoller Prozess, der manchmal unfair geführt wird. Man bekommt den Eindruck, es sei schon Häresie, allein über die sich verändernde Rolle der Hochschulen im Hochschulsystem nachzudenken. Dabei ist die Geschichte des europäischen Hochschulsystems seit mehr als 1000 Jahren eine Geschichte von steter Veränderung – nicht von Stillstand. Denkverbote sind wissenschaftsfeindlich! Wir sind gottseidank weiter. Jetzt kann nach neuem Hochschulgesetz in NRW ein Promotionsrecht für das gemeinsame Promotionskolleg der HAWs eingeführt werden. Voraussetzung ist, dass das bisherige Graduierteninstitut NRW der HAWs in ein Promotionskolleg überführt und positiv evaluiert wird. Wir bieten ein innovatives Modell von hoher Qualität an.

Wann werden die ersten neuen Promotionen abgeschlossen sein?

Ihne: Es dauert noch etwas und hängt vom weiteren Prozess ab. Ich hoffe, dass wir spätestens in 2021 soweit sind. Wir werden die rund 300 laufenden Promotionen in das neue Modell überführen. Natürlich sollen gut funktionierende Promotionskooperationen mit Universitäten weiter möglich sein.

Sind Sie mit dem neuen Verfahren bundesweit die Ersten?

Ihne: Nein. Aber NRW ist innovativ. Alle Bundesländer haben das Thema. In Hessen läuft die Promotion an HAWs schon seit einigen Jahren – nach einem anderen Modell. Auch Kunst- und Musikhochschulen in NRW haben Promotionsrecht. Die HAWs in NRW, die intensiv forschen und hervorragend ausbilden, werden mit Hilfe des Promotionskollegs die Promotion hochqualitativ umsetzen und innovativ weiterentwickeln. Die EU-Kommission kritisiert übrigens, dass Promotionen oft „zu anwendungsfern“ seien. Von den Promovierten bleiben 80 Prozent nicht in der Wissenschaft.

Der Doktortitel als „Uni-Abschluss plus“, der eine bessere Karriere auf dem Arbeitsmarkt eröffnet?

Ihne: Ich sehe die Promotion als eine besondere Stufe der wissenschaftlichen Ausbildung von komplexen, methodischen Fähigkeiten. Diese ist in einen Forschungs- und Innovationskontext eingebunden, in dem man sich jahrelang mit schwierigen Fragen quält und zu einer neuen, wissenschaftlich begründeten Erkenntnis kommt. Die EU empfiehlt, dass die Promotion nicht nur auf Forschungstätigkeiten, sondern auch auf komplexe Tätigkeiten im Bereich gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technologischer Innovationen vorbereiten solle. Das würde das Wissenschaftssystem nicht schwächen, sondern stärken. Mich wundert, was für ein Politikum die Frage der Promotion immer noch ist. Manche scheinen zu glauben, dass mit einem Promotionsrecht für HAWs die Wissenschaft untergehe.

Und würde sie es?

Ihne: Nein! (lacht) Das ist absurd. Andere Länder haben mit solchen Veränderungen offenbar weniger Schwierigkeiten. Die Briten etwa haben 1992 „Universities“ und „Polytechs“ als Universitäten rechtlich gleichgestellt. Ich habe einen ehemaligen Rektor der Universität Oxford gefragt, ob es Blockaden gab. Antwort: »Not really. We got fresh ideas.« Also nicht Dünkel, sondern Bereitschaft für Neues. Das britische Hochschulsystem hat davon profitiert.

Gälte das auch hierzulande?

Ihne: Wir stärken einen Hochschultyp, der angewandte Forschung lebt. Der nah mit der und für die Gesellschaft am Verständnis und an der Lösung ihrer Probleme arbeitet und damit den Menschen dient.

Die ersten Doktoren im Rahmen dieses Verfahrens werden also auch Pioniere für das gesamte System der HAWs und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit?

Ihne: Was die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit angeht, kann man mehr tun. Unsere Absolventinnen und Absolventen stehen seit Jahren in Verantwortung in herausragenden Bereichen der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Wissenschaft. Zum Beispiel Joe Kaeser, der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Absolvent der FH Regensburg. Wäre doch schön, wenn die besten Studierenden an einer Hochschule, die schon vor 40 Jahren so erfolgreiche Absolventen wie ihn hervorgebracht hat, heute promovieren könnten.

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