Wissenschaftler in der Türkei „Es herrschen Misstrauen und Angst“

Die Hochschullandschaft in der Türkei ist seit dem Putschversuch von Teilen des Militärs am 15./16. Juli kaum wiederzuerkennen. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Gieler lehrt und forscht seit 15 Jahren an einer Universität in Istanbul. Fabian Vögtle sprach mit ihm über Ermittlungen, Anhörungen und wachsendes Misstrauen auch unter Kollegen.

 Das Hauptportal der Istanbul Üniversitesi im Stadtteil Fatih: Die staatliche Universität ist mit 100 000 Studenten und 5000 Mitarbeitern eine der größten und renommiertesten der Türkei. FOTO: DPA

Das Hauptportal der Istanbul Üniversitesi im Stadtteil Fatih: Die staatliche Universität ist mit 100 000 Studenten und 5000 Mitarbeitern eine der größten und renommiertesten der Türkei. FOTO: DPA

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Sie sind immer wieder in der Türkei und wohnen in Istanbul. Wie haben sich das Land und die Stadt am Bosporus in den letzten Monaten verändert?

Wolfgang Gieler: Die Türkei ist seit dem Putschversuch ein zutiefst gespaltener Staat. Das geht quer durch die Familien. Es herrscht eine Atmosphäre des Misstrauens, der Diffamierung und der Angst. In Istanbul ist das auf den Straßen spürbar. Da ist seit Juli deutlich weniger los. Die Leute gehen nur noch schnell auf den Markt zum Einkaufen, aber halten sich dort nicht mehr wirklich lange auf, um zu plaudern oder zu flanieren.

Gegen viele ihrer türkischen Kollegen wird ermittelt, einige sind beurlaubt oder sogar entlassen worden. Wie geht der Staat genau gegen sie vor?

Gieler: Seit dem Putschversuch sind 2300 Professoren, Dozenten und akademisches Personal beurlaubt oder gekündigt. Dazu gehören auch Hausmeister und Sekretärinnen. Alleine an einer Universität in Istanbul gab es über 30 Suspendierungen, rund 30 Festnahmen und über 200 Vorermittlungen. Zunächst gibt es diese Vorermittlungen meist wegen des Verdachts, Anhänger der Gülen-Bewegung zu sein. Solche Vorermittlungen können auch nachrichtendienstliche Abhörmethoden nach sich ziehen. Wenn sich ein Verdacht bestätigt, wird gegen die Person ermittelt. Das heißt im Klartext, dass es über die Universität einen Vermerk in der Personalakte beim Kultusministerium und danach eine Anhörung gibt. So eine Sitzung kann fünf Minuten, aber auch sieben Stunden dauern. Da gehen die Erfahrungswerte auseinander. Im schlimmsten Fall verliert man anschließend seinen Beamtenstatus oder landet im Gefängnis.

Was hat die türkische Regierung gegen Ihre Kollegen konkret in der Hand?

Gieler: Gründe für Ermittlungen können neben der vermeintlichen Gülen-Anhängerschaft die Mitgliedschaft bei der PKK und bei anderen Organisationen sein, die als terroristisch oder oppositionell betrachtet werden. Regimekritische Postings bei Facebook und Twitter reichen dafür oft aus. Auch Whats-App-Nachrichten zwischen Kollegen und Freunden werden zum Teil überwacht. Wenn Kinder auf eine einst geförderte und vom Staat akzeptierte Gülen-Schule gehen oder Personen einen Kredit von einer Gülen-Bank annehmen, sind sie ebenso verdächtig und es werden Ermittlungen eingeleitet. Angeklagt werden letztlich alle, die im Zuge der Ermittlungen als Angehörige einer Terrorgruppe oder als Anhänger von Gülen ausgemacht wurden.

Wie muss man sich derzeit die Stimmung in den Hochschulen vorstellen?

Gieler: Diejenigen, gegen die Vorermittlungen laufen, sagen oft nichts. Sie versuchen es geheim zu halten, um nicht dem Denunziantentum ausgeliefert zu sein. Gerade im Unibereich hat man schnell ein Problem mit Kollegen. Wenn du dich als Verdächtiger beim Mittagessen in der Kantine an einen Tisch setzt, stehen die anderen sofort auf – aus Angst, ebenfalls in irgendeinen Verdacht zu geraten. Ich kenne Fälle, wo Professoren und Doktoranden wegen Vorermittlungen von Forschungsergebnissen ausgeschlossen wurden. Die meisten sagen sich mittlerweile: „Ich schaufle mir doch nicht mein eigenes Grab“ und halten lieber ganz den Mund. Man traut eben keinem mehr über den Weg. Darunter leidet nicht nur die Forschung und Lehre in der Türkei, sondern vor allem die Menschen.

Auch türkische Gastwissenschaftler und Austauschstudenten, die im Ausland sind, wurden zur Rückkehr in die Türkei aufgefordert ...

Gieler: Alle, die mit einem staatlichen Stipendium im Ausland sind, wurden zur Rückkehr in die Türkei aufgefordert. Vor allem Postgraduierte sind davon stark betroffen. Für türkische Wissenschaftler, die für Forschungsprojekte oder Vorträge nach Deutschland oder in andere Länder gehen wollten, gibt es jetzt ein Ausreiseverbot. Auch Erasmusstudenten werden vorerst keine mehr entsendet.

Wie können sich die Angeklagten und Entlassenen überhaupt dagegen wehren?

Gieler: Sie haben überhaupt keine Möglichkeit, das Urteil anzufechten. Da ist gar keine Rechtsstaatlichkeit mehr zu erkennen. Man hat nur die Möglichkeit, über einen Anwalt für mehrere Tausend Euro ein Schreiben ans Justizministerium abzugeben, in dem man den Verdacht bestreitet. Wer das nicht tut, gilt sowieso als komplett schuldig. Mit dem Schreiben ist zumindest aktenkundig, dass man sich offiziell gegen sein Verfahren gewehrt hat.

Setzt sich für die verdächtigten und angeklagten Hochschulmitarbeiter denn niemand ein?

Gieler: Die Gewerkschaften sind sehr engagiert. Aber auch hier gibt es eine tiefgreifende Spaltung. Die linke Gewerkschaft ist dem PKK-Vorwurf ausgesetzt, sich ausschließlich und einseitig für Oppositionelle einzusetzen. Der rechts orientierten, der MHP nahestehenden Gewerkschaft wird dagegen von Kritikern vorgeworfen, nicht ausreichend zu unterstützen und nur eine Alibi-Funktion wahrzunehmen.

Welche Absicht hat die Regierung mit den Maßnahmen?

Gieler: Die Intention der Regierung ist ein Abrücken von der säkularen, wissenschaftlichen, west-demokratischen Erziehung. Befürchtet werden muss, dass die Universitäten von allen Kritikern gesäubert werden sollen. Auf der Rektorenebene sind mittlerweile fast alle auf Regierungslinie. Sie gehören zwar nicht alle der AKP an, aber in ihrer neuen Rolle bleibt ihnen nichts anderes übrig, als nach deren Vorstellungen aufzutreten. Aus Furcht beziehen die meisten inhaltlich gar keine Position mehr. Mir blutet das Herz dabei. Denn wer wissenschaftlich arbeiten will, wird jetzt in eine Eindimensionalität gedrängt. Das ist schrecklich, vor allem bei dem wissenschaftlichen Potenzial der Türkei.

Wie wird sich die Türkei in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln?

Gieler: Die wirtschaftliche Prosperität ebbt immer mehr ab und die Gesellschaft wird gespalten. Eine politische Säuberung hat es bisher noch nicht gegeben. Einige Gülen-Anhänger, die im Parlament sitzen, werden bewusst nicht belangt, da sie mit ihrem Wissen der Regierung gefährlich werden könnten. Die politische Abrechnung beginnt wohl erst mit vorgezogenen Neuwahlen. Dafür werden jetzt die Koordinaten gestellt. Der Ausnahmezustand wurde verlängert, um eine Plattform zu schaffen, auf der die Angst gesteigert und zementiert wird. So soll eine breite Wählerschaft akquiriert werden, die für politische Stabilität sorgt. Letztlich geht es um die Verfassungsänderung, damit Erdogan als Staatspräsident das 100-jährige Bestehen der Republik 2023 und sich als neuen Atatürk feiern kann.

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