Interview mit Soziologe Sascha Liebermann: „Vereinbarkeit ist eine Illusion“

Alfter · Soziologe Sascha Liebermann spricht in der Alanus-Ringvorlesung "Liebe usw." über den Wandel von Familie. GA-Redakteurin Anna-Maria Beekes hat sich mit ihm unterhalten.

 Wenn das Kind kommt, bleibt wenig Zeit für die Parkplatzsuche vor dem Krankenhaus. Viele Kliniken, wie hier das Marienhospital, haben deswegen Abhilfe geschaffen.

Wenn das Kind kommt, bleibt wenig Zeit für die Parkplatzsuche vor dem Krankenhaus. Viele Kliniken, wie hier das Marienhospital, haben deswegen Abhilfe geschaffen.

Foto: Benjamin Westhoff

Verliebt, verlobt, verheiratet", lautet ein Kinderreim - der so weitergeht: "geschieden, wie viele Kinder wirst du kriegen?" Im Rahmen der Ringvorlesung "Liebe usw." der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter beschäftigt sich Sascha Liebermann, Professor für Soziologie, mit dem Wandel der Familie: "Liebesgemeinschaft oder Betreuungsarrangement?" Mit ihm sprach Anna-Maria Beekes.

Laut einer Studie des Max-Planck-Instituts und der Universität Western Ontario sind Eltern kleiner Kinder die unglücklichsten Menschen in unserer Gesellschaft. Können Sie sich das erklären?

Liebermann: Es gibt zwei Seiten, die nur schwer überein zu bringen sind. Sie haben auf der einen Seite das Phänomen des Eltern-Alltags, der, je kleiner die Kinder sind, von umso mehr Strapazen geprägt ist. Da kommt es zu einer enormen Fremdbestimmung, die gar nicht vermeidbar ist. Eine Zäsur im Leben waren Kinder schon immer. Aber heute ist dieser Einschnitt noch viel größer, weil die Vorstellung noch an Bedeutung gewonnen hat, wir seien unseres Glückes Schmied, frei in unseren Entscheidungen und ganz unabhängig. Elternschaft konfrontiert einen mit umfassender Abhängigkeit.

Eine Illusion zerplatzt...

Liebermann: Ja, weil man sich das Ausmaß an Beanspruchung nicht vorstellen kann. Es ist eine regelrechte Erschütterung, Kinder zu bekommen. Für Väter ist der Einschnitt noch gravierender. Als Schwangere spürt die Frau das Kind, es ist immer da, begleitet sie. Der Alltag wird anstrengender, beschwerlicher, Sie können nicht mehr richtig schlafen. Für die Väter ist aber alles wie vorher, und auf einmal ist das Kind da. Diese immense Herausforderung ist in der heutigen Zeit noch viel größer geworden, weil es aufgrund unserer Lebensweise viel wichtiger ist, dem Individuum und seinen Bedürfnissen zu entsprechen und Kinder nicht einfach mitlaufen zu lassen. Dafür braucht man aber Zeit, und die haben wir faktisch nicht.

Das ist dann die andere Seite?

Liebermann: Genau. Unsere Gesellschaft ist überhaupt nicht darauf eingerichtet, dass Mütter wie Väter viel mehr Zeit brauchen, um dieser Beanspruchung gerecht zu werden. Kinder sind zum Beispiel nicht auf den Punkt bereit dafür, in den Kindergarten zu gehen - und von sich aus wollen sie das sowieso nicht. Diese Zeit geben wir den Kindern nicht. Heute gelten Sie als emanzipiert, wenn Sie erwerbstätig sind, und als rückständig, wenn Sie länger zu Hause bleiben - und müssen natürlich auch mit der Quittung leben, was Rente und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt angeht - und mit der Nicht-Wertschätzung Ihrer Leistung. Wir leisten uns diesen riesigen Widerspruch und bekommen auf lange Sicht die Folgen präsentiert.

Die da wären?

Liebermann: Es gibt heute immer mehr auffällige Kinder, und zwar über alle Schichten hinweg. Familie ist das Zentrum für die Entwicklungsprozesse, und was dort nicht gelingt, lässt sich nicht auffangen durch andere Einrichtungen. Wir reden viel darüber, dass die Solidarität untereinander abnimmt. Aber wenn wir uns keine Zeit für die Kinder nehmen, nehmen wir den Kindern die Erfahrung, was Solidarität überhaupt bedeutet: nämlich dass die wichtigsten Personen verlässlich da sind, vorbehaltlos. Vorbehaltlose Verlässlichkeit kennt keine Arbeitszeit und keine Ferien.

Ist das nicht eine sehr deutsche Diskussion?

Liebermann: Sagen wir mal so, in anderen Ländern wurde die außerhäusliche Betreuung von Kindern unter drei Jahren viel früher etabliert - begründet mit der Teilnahme am Arbeitsmarkt.

Haben Eltern und Kinder in diesen Ländern also keine gute Bindung?

Liebermann: Daran, wie liebevoll Eltern zu Kindern sind, auch Eltern, die ihre Kinder sehr umfangreich betreuen lassen, erkennt man ja nicht, was genau in den Familien los ist. Die Frage ist, kann das Familienleben überhaupt vollzogen werden, wenn die Kinder so wenig zu Hause sind? Vertraut zu werden miteinander, Erfahrungen gemeinsam zu machen, Konflikte auszutragen - das braucht Zeit füreinander. Kinder verändern sich schnell. Die schöne Maxime von der "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" ist insofern illusionär.

Was wäre Ihr Lösungsansatz?

Liebermann: Eltern sollten möglichst frei darin sein, wie sie Elternschaft leben wollen. Sozialpolitik heute stellt jedoch Erwerbstätigkeit über alles und sendet damit ein Signal an Eltern: "Kommt schnell zurück, verschwendet nicht zu viel Zeit zu Hause".

Wie überlebt man als Paar die unweigerliche "Kinder-Krise"?

Liebermann: Eltern brauchen auch dafür vor allem eins: Zeit, insbesondere: Zeit, um zu reden. Es ist nicht damit getan, dass sie mal ein Wochenende nach Paris reisen - sie müssen im Alltag Räume und Möglichkeiten schaffen. Es bleibt tatsächlich krisenhaft, bis Kinder das Haus verlassen - weil Sie als Eltern ja nie wissen, ob Sie die richtigen Entscheidungen treffen. Aber wenn wir uns darauf einlassen und es schaffen, diese Abhängigkeit als etwas Positives zu begreifen, dann werden wir auf lange Sicht erfahren, dass es keine Selbstbestimmung ohne Abhängigkeit geben kann - dann nämlich, wenn sich die Kinder schließlich ablösen und ihren eigenen Weg gehen können.

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