Atomkraftwerke in Deutschland Wenn die Reaktoren abschalten

Bonn · Spezialfirmen wie GNS aus Essen tragen Kernkraftwerke in Deutschland ab. Experten vermuten einen Milliardenmarkt. Derzeit sind bundesweit noch acht Anlagen am Netz.

Bonn und der Rhein-Sieg-Kreis liegen in der so genannten „Fernzone“. Das heißt, alle deutschen Atomkraftwerke sind mehr als hundert Kilometer weit entfernt. Die nächsten noch aktiven Meiler im Inland sind Philippsburg 2 in Baden-Württemberg und in Niedersachsen Emsland und Grohnde. Die Entfernung beträgt in allen Fällen mehr als 230 Kilometer. Und auch bis zum umstrittenen belgischen Kraftwerk Tihange sind es deutlich mehr als hundert Kilometer.

Der Katastrophenschutz des Bundes teilt Deutschland in vier Zonen. Bonn und der Kreis liegen in der Äußersten. „Bei einem Störfallszenario würde es ausreichen, die Menschen aufzufordern, in ihren Wohnungen zu bleiben“, erklärt die Sprecherin des Rhein-Sieg-Kreises Rita Lorenz. Trotzdem erhalten der Rhein-Sieg-Kreis als auch Bonn demnächst Jodtabletten für Kinder und Schwangere.

Insgesamt acht Reaktoren sind in Deutschland derzeit noch am Netz. Bis 2022 soll der letzte Meiler abgeschaltet werden. 16 Anlagen befinden sich derzeit im Rückbau. Das heißt, die kerntechnischen Anlagen werden abgebaut. Das Ziel, das das Bundesamt für Strahlenschutz anstrebt, ist am Ende „die grüne Wiese“, das heißt eine vollständige Entfernung aller Bauten und Rekultivierung des Standortes. Die Phase des Rückbaus eines Reaktors dauert mindestens zehn Jahre. Auch in dieser Phase kann es natürlich zu Unfällen mit radioaktivem Material kommen. Daher gibt es spezielle Dienstleister, die sich auf genau diese Arbeit spezialisiert haben. Die Kosten übernehmen die Kraftwerksbetreiber. Experten sprechen beim Rückbau von einem Milliardengeschäft. Denn pro Reaktor können sich die Kosten zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Euro bewegen.

Einer, der genau diese Dienstleistung anbietet, ist Nukem Technologies Engineering Services. Das Unternehmen mit Sitz in Bayern, beschäftigt 140 Mitarbeiter und hat 2015 rund 25 Millionen Euro umgesetzt. Doch noch bleibt das große Geschäft mit dem Kraftwerksrückbau aus, wie Nukem-Chef Thomas Seipolt erklärt: „Wir leiden derzeit darunter, dass so wenig Projekte auf den Markt kommen.“ 80 Prozent des Umsatzes macht Nukem im Ausland. Das Unternehmen konkurriert in Deutschland mit zwei Handvoll anderer Unternehmen im Bereich der Nukleartechnik. Eines der bekannteren ist Areva Deutschland. Die Tochter eines französischen Konzerns hat ihren Hauptsitz mit 3100 Mitarbeitern in Erlangen. Aber auch Steag, Westinghouse und GNS sind Konkurrenten.

Bei GNS aus Essen nimmt die Zahl der Aufträge im Bereich des Rückbaus zu. Wie ein Sprecher erklärt, hat das für das Unternehmen allerdings keine besonderen Auswirkungen. Das Kerngeschäft von GNS mit rund 630 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von rund 300 Millionen Euro ist nämlich eigentlich die Entsorgung hochradioaktiver Abfälle. Und Aufträge in diesem Bereich würden wegen der Abschaltung der Kraftwerke immer weniger.

Was den Rückbau angehe, vergebe nur das Energieunternehmen EnBW derzeit Aufträge in nennenswerter Höhe, findet Seipolt. Allerdings liegen zwischen der Abschaltung eines Reaktors und dem Beginn des Abbaus meist mehrere Jahre. Laut Bundesamt für Strahlenschutz dauert es rund fünf Jahre, bis alle nötigen Genehmigungen vorliegen.

Dazu kommt, dass es zwei unterschiedliche Strategien des Rückbaus gibt: den „direkten“ und den „sicheren Einschluss“, wie es in der Fachsprache heißt. Das bedeutet, das Atomkraftwerk wird in einen wartungsfreien Zustand überführt und der Betreiber wartet bis die Radioaktivität etwas abgeklungen ist. Wollen Betreiber jedoch demnächst plötzlich viele Aufträge auf einmal vergeben, könnte es zu Staus kommen: Eine Untersuchung des Beratungsunternehmens McKinsey hat vorgerechnet: In den nächsten 15 Jahren steht an 142 Standorten weltweit der Abriss von 250 Kraftwerksblöcken an. „Wenn der Knoten bald platzt, könnte es auch für die deutschen Betreiber eng werden“, erklärt Nukem-Chef Seipolt. Denn da es nur eine überschaubare Anzahl Dienstleister gebe, könnten deren Kapazitäten schnell an ihre Grenzen stoßen.

Das Problem: „Die Aufträge sind langwierig“, so Seipolt. Die Zerlegung des Reaktorkerns könne bis zu fünf Jahre dauern. Seipolt rechnet damit, dass bis 2040 alle deutschen Kernkraftwerke zurückgebaut werden könnten. „Das Ende der Atomkraft ist das dann aber immer noch nicht. Schließlich braucht es noch eine Lösung für den Müll“, so der Nukem-Chef. „Ich schätze, dass uns die Kerntechnik noch rund hundert Jahre beschäftigen wird.“

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