Interview mit dem EU-Abgeordneten Bernd Lange Viele Fragen nach dem vollzogenen Brexit sind noch offen

Bonn · Der Vorsitzende des Handelsausschusses im EU-Parlament Bernd Lange (SPD) äußert sich zu Fragen, die jetzt bei den Gesprächen mit Großbritannien wichtig sind.

 Die Mini-Produktion im Werk in Oxford: Nur 40 Prozent der Teile für das Auto stammen aus Großbritannien.

Die Mini-Produktion im Werk in Oxford: Nur 40 Prozent der Teile für das Auto stammen aus Großbritannien.

Foto: picture alliance/dpa/BMW

Hunderttausende Sportpferde werden jährlich zu Wettkämpfen über den Ärmelkanal und wieder zurückgebracht. Müssen diese Tiere künftig wochenlang in Quarantäne? Das ist nur eine von vielen Fragen, die nun bei den Handelsgesprächen zwischen Großbritannien und der EU geregelt werden müssen – und an die bisher kaum jemand gedacht hat. Bernd Lange (SPD) ist einer der wichtigsten Experten der EU. Er leitet den Handelsausschuss des Europäischen Parlamentes und ist an den Verhandlungen mit den Briten beteiligt. Mit Lange sprach Detlef Drewes.

Wo sind die Stolpersteine für die Verhandlungen?

Bernd Lange: Großbritannien möchte ein Handelsabkommen haben, das ähnlich wie die Verträge aussehen soll, die die EU mit anderen Partnern abgeschlossen hat. Die Besonderheit liegt darin, dass es normalerweise um Partner geht, die sich annähern. Bei dem Vereinigten Königreich werden wir festlegen, worin sich beide unterscheiden und wie man Gewachsenes trennt.

Mit welchen Zielen geht die EU in die Gespräche?

Lange: Die Gemeinschaft würde gerne die Zollfreiheit erhalten. Außerdem wollen wir keine Kontingente für begrenzte Liefermengen. Gleichzeitig müssen wir die Standards für Produkte und Dienstleistungen erhalten, die wir im Laufe vieler Jahre für den Binnenmarkt entwickelt haben. Das muss für alle Importe aus Großbritannien in die EU gelten. Besonders problematisch sind die Bestimmungen, die man als „handelbegleitende Regeln“ bezeichnet. Da geht es um gleiche Arbeitnehmerrechte, ein gleiches Niveau bei Umwelt, Staatsbeihilfen und beim Steuersystem. Es muss Chancengleichheit herrschen.

Wird es künftig auf alle Waren und Dienstleistungen, die aus Großbritannien importiert beziehungsweise dorthin exportiert werden, Zölle und damit Verteuerungen geben?

Lange: Das glaube ich nicht. Beide Seiten haben in der politischen Erklärung die Zollfreiheit bereits beschlossen. In der Praxis wird es aber dennoch Kontrollen geben. Bisher ist vorgesehen, dass es in Großbritannien zertifizierte Wirtschaftsteilnehmer gibt, die dann selbst Zollerklärungen vornehmen. Darin muss zum Beispiel auch garantiert werden, dass es sich um britische Waren handelt und nicht um Importe beispielsweise aus Fernost.

Was heißt das konkret?

Lange: Nach dem Verständnis der EU handelt es sich nur dann um Produkte aus dem Partnerland, wenn 45 Prozent der Wertschöpfung auch wirklich im Staat stattgefunden haben. Bei den Autos der Marke Mini ist das nicht der Fall. Dort liegt die Wertschöpfung in Großbritannien nur bei 40 Prozent, der große Teil stammt von Zulieferern aus Kontinental-Europa. Wie sollen da Zollfragen geregelt werden? Dies sind Details, über die man reden muss. Aber klar ist, dass nach unserem Verständnis eine Ware nur dann als originär aus diesem Land anerkannt wird, wenn sie im Wesentlichen dort gefertigt wurde. Es gibt somit selbst bei der Zollfreiheit noch einige Probleme, die man regeln muss.

Es gibt viele Wertschöpfungsketten, bei denen Bauteile immer wieder hin und her gefahren und dann weiterverarbeitet werden.

Lange: Das ist in der Tat so, weil wir im Automobil-Bereich oder im Maschinenbau integrierte Wertschöpfungsketten haben. Und auch in der Medikamenten-Herstellung werden zwischenverarbeitete Produkte immer wieder zur Weiterverarbeitung über den Kanal verschifft. In diesem Bereich könnte es wirklich kompliziert werden.

Das klingt nach einer besonders heftigen Form von Bürokratie…

Lange: Es ist ein großer Aufwand, den wir versuchen wollen, zu vermeiden. Sonst müssten am Ende wirklich 100 Prozent aller Waren kontrolliert werden.

Betrifft das in gleicher Weise Lebensmittel – beispielsweise Fleischimporte?

Lange: Da gilt sogar eine ganz besondere Kontrollpflicht, weil die EU in diesem Bereich hohe Standards hat. Derzeit ist vorgesehen, dass diese Importe ausnahmslos kontrolliert werden.

Die Vorstellung, dass demnächst hunderte Lkw mit lebenden Tieren, leicht verderblichen Lebensmitteln und sensibler Technik in Calais oder Ostende tagelang vor einer Zollkontrolle stehen, klingt abenteuerlich.

Lange: Das ist zu befürchten. Bei etlichen Warengruppen kann man durch elektronische Zollerklärungen viele Umstände vermeiden. Aber bei Tieren und tierischen Produkten wird es schwieriger. In unserem Ausschuss haben wir ein besonders drastisches Beispiel diskutiert: Dabei ging es um Pferde, die nicht zur Schlachtung, sondern zu Sportveranstaltungen hin und her gefahren werden. Das sind derzeit rund 200 000 Tiere, die jedes Jahr über den Kanal transportiert werden. Da sie künftig aus einem Drittstaat kommen, müssten sie mehrwöchige Quarantäne-Bestimmungen und tierärztliche Begutachtungen durchlaufen, was bei einem Sportpferd gar nicht möglich ist.

Gelten die Passagierrechte künftig noch bei britischen Airlines? Kann ich mit der europäischen Gesundheitskarte im Vereinigten Königreich zum Arzt gehen? Sind solche Verbraucherrechte schon geklärt?

Lange: Das ist alles noch offen und muss im Rahmen der Verhandlungen geklärt werden. Es ist beispielsweise noch nicht ausgemacht, ob Großbritannien die bisherigen europäischen Haftungsregelungen bei Flugverspätungen oder -absagen übernimmt. Ein weiteres Beispiel: Gelten für Lkw-Fahrer, die Waren vom EU-Mitglied Irland durch Großbritannien Richtung Europa fahren, die gleichen Schutzregelungen und Lenkzeiten wie für die Kollegen auf dem Kontinent? Da muss noch viel geredet werden.

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