Prozess gegen Pharmahersteller Urteil wegen Schmerzmittelwerbung gefallen

Washington · Der Pharmahersteller Johnson & Johnson muss Schadensersatz für die Vermarktung von Schmerzmitteln bezahlen. Das Unternehmen hatte eine PR-Kampagne gestartet, welche die Risiken von Opioiden herunterspielte.

Der Konzern Johnson & Johnson muss 572 Millionen Dollar an Schadensersatz zahlen, weil er nach dem Urteil eines Richters in Oklahoma die Gefahren opioidhaltiger Medikamente auf unverantwortliche Weise heruntergespielt hat. Es ist das erste Mal, dass ein amerikanisches Unternehmen wegen einer Mitschuld an der seit Jahren grassierenden Opioid-Epidemie im Zuge eines Gerichtsprozesses zur Verantwortung gezogen wird.

Die Firma, so Thad Balkman, der zuständige Richter am Cleveland County District Court in der Stadt Norman, habe durch „irreführende und gefährliche“ Vermarktung der Schmerzmittel dazu beigetragen, die Suchtkrise zu verharmlosen und somit noch zu verschärfen. Dabei habe sie in Kauf genommen, dass die Zahl der Drogenabhängigen rasant stieg und Tausende an einer Überdosis starben. Gemeinsam mit anderen Pharmaherstellern habe Johnson & Johnson (J & J) eine teure PR-Kampagne gestartet, um sowohl Mediziner als auch die breite Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass man mit Opioiden kein Risiko eingehe, weil sie angeblich nicht süchtig machten.

Was Balkman auflistet, liest sich wie die kompakte Chronik einer Epidemie, die lange verdrängt wurde, obwohl sie bereits in den 1990er Jahren begann. Damals ließen Pharmaanbieter Studien erstellen, nach denen man Schmerzen lange Zeit unterbehandelt habe und sich dies ändern müsse. Ab der zweiten Hälfte der Neunziger brachten sie massenhaft Opioide auf den Markt. Diese hatten bis dahin wegen der damit verbundenen Suchtgefahr als bedenklich gegolten, sodass sie in aller Regel nur in Krankenhäusern benutzt wurden. Dann aber sank die Hemmschwelle, mancherorts entstanden sogenannte „pill mills“, dubiose Arztpraxen, in denen wie am Fließband Opioide verschrieben wurden, in vielen Fällen, ohne mit den Patienten auch nur zu reden.

326 Millionen verschriebene Opioid-Pillen in einem Jahr

Meldeten Ärzte Zweifel an, redeten ihnen Vertreter von J & J ein, dass es sich lediglich um eine „Pseudo-Sucht“ handle. Wenn Patienten schon nach auffallend kurzer Zeit um ein neues Rezept baten und somit Suchtsymptome erkennen ließen, sprachen die Emissäre der Industrie von einer nur scheinbaren Abhängigkeit. Man müsse sich deshalb keine Sorgen machen: Verlange jemand nach mehr, sei dies nur ein Zeichen für eine „Unterbehandlung“. Im Übrigen möge man im Patientengespräch negative Begriffe vermeiden, etwa das Wort Abhängigkeit. 2015, auf dem Höhepunkt der Krise, wurden allein in Oklahoma 326 Millionen Opioid-Pillen verschrieben, statistisch gesehen 110 Tabletten für jeden Erwachsenen.

Was der Richter in seiner Urteilsbegründung beschreibt, nennt Mike Hunter, der Justizminister des Bundesstaats, eine bis zum Exzess getriebene Profitgier. Bisweilen, sagt er, hätten Pharmahersteller geradezu die Rolle von Drogendealern übernommen. Hunter hatte 17 Milliarden Dollar Entschädigung gefordert, in seinen Worten gerade genug, um zu decken, was Oklahoma in den nächsten zwei Dekaden für die Reparatur des angerichteten Schadens ausgeben müsse, von Kliniken für Suchtkranke bis hin zu Sozialleistungen. Dass es Richter Balkman bei einem Bruchteil der Summe beließ, ließ den Aktienkurs von J & J zunächst sogar steigen.

Im vergangenen Jahr starben etwa 69 000 Amerikaner an einer Überdosis Rauschmittel, 189 pro Tag. Zwar bedeutete es einen leichten Rückgang gegenüber dem Vorjahr, doch noch immer war die Zahl der Drogentoten höher als die der in Vietnam gefallenen US-Soldaten. Ein Großteil der Todesfälle – rund 48 000 – ging auf Opioide zurück.

Besonders hart trifft es Bundesstaaten im Rostgürtel der alten Industrie, etwa Wes Virginia, Pennsylvania und Ohio. In Ohio soll denn im Oktober auch ein Mammutprozess beginnen, eine Verhandlung, bei der zwei Verwaltungsbezirke des mittelwestlichen Bundesstaats gegen eine ganze Reihe von Pharmaherstellern klagen.

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