Erschütterungen durch Karlsruher Urteil Institutionen sorgen sich um den Zusammenhalt der EU

Brüssel · Die EU-Institutionen versuchen, der Folgen des Richterspruchs zu den EZB-Anleihekäufen Herr zu werden. Das Kernproblem ist die Rüge für den Europäischen Gerichtshof, so Kritiker.

 Andreas Voßkuhle nach der Verkündung des EZB-Urteils Anfang Mai. Am Freitag lief seine Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts ab.

Andreas Voßkuhle nach der Verkündung des EZB-Urteils Anfang Mai. Am Freitag lief seine Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts ab.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Dieser Fall ist einmalig: Nur wenige Tage nach dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichtes zum Staatsanleihen-Aufkauf der Europäischen Zentralbank (EZB) rüffelte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Karlsruher Entscheidung. „Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg“, schrieb sie in einer Mitteilung ihres Hauses und kündigte an, gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Die Heftigkeit ihrer Reaktion und die plötzliche Stille seither zeigen nach Ansicht eines hohen Brüsseler EU-Diplomaten: „Ein paar Tage hat es gedauert, bis alle verstanden haben, welche Sprengkraft in dem Richterspruch steckt.“ Es gehe um den Fortbestand des Euro-Raums, möglicherweise sogar der gesamten Europäischen Union.

Das beginnt schon bei der Aufforderung des Karlsruher Gerichtes, die Anleihekäufe der EZB „nachvollziehbar“ zu begründen. Aus dem 110 Seiten umfassenden Urteil geht hervor, was damit gemeint ist: So habe die EZB nicht genug geprüft, welche unerwünschten Nebenwirkungen wie sinkende Sparzinsen, steigende Wohnungspreise oder Verluste bei Altersvorsorge-Versicherungen ihre Aktion habe. Außerdem fehle eine Ausstiegs-Strategie. Mit anderen Worten: Die Frankfurter Bank hätte aufzeigen müssen, wie man langfristig wieder die Bestände an Staatsanleihen zurückführt. Das klingt machbar, einige glaubten schon, die Zentralbank brauche höchstens fünf Minuten, um die entsprechenden Ausführungen ins Internet zu stellen. Doch so einfach wird es nicht. Denn diese Vorgabe berührt die Unabhängigkeit der EZB, die in den Verträgen festgelegt ist. Lediglich die Begründung für das Programm zu veröffentlichen reicht nicht, sie muss ja schließlich auch geprüft werden. Wer soll das tun: Bundesregierung und Bundesbank? Allein die Vorstellung, die Bundesbank unter Umständen zur Prüfinstanz über die EZB zu stellen, kratzt am Bestand des Euro-Raums.

Hinzu komme, so argumentieren die Brüsseler Währungshüter, dass die Verhältnismäßigkeit schwer zu begründen ist – noch komplizierter dürfte es bei dem neuen Programm sein, das die EZB zur Unterstützung in der Coronavirus-Krise aufgelegt hat. Denn wer kann schon am Beginn einer Pandemie sagen, ob die Hilfen angebracht oder unverhältnismäßig sind?

Das Kernproblem ist die Rüge für den EuGH

Das Kernproblem sehen die Kritiker Karlsruhes aber in der offensichtlichen Rüge für den Europäischen Gerichtshof. Die EZB untersteht nämlich nicht den nationalen Verfassungsgerichten, sondern allein dem EuGH. Der hatte die Aufkäufe der Staatspapiere in einem eigenen Spruch ausdrücklich als durch das Mandat der EZB gedeckt beurteilt. Karlsruhe nannte die Entscheidung jetzt ziemlich rüde „willkürlich“. Im Urteil findet sich dafür der für Juristen zentrale Begriff „ultra vires“. EuGH und Euro-Bank hätten „außerhalb ihrer Zuständigkeit“ gehandelt. Es gehe um eine „besonders gravierende Kompetenzverletzung der europäischen Institutionen“, verteidigte Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle, dessen Amtszeit am Freitag auslief, in dieser Woche die Entscheidung seines Senats.

Ist die EU ein Staat?

Dahinter steckt die Auffassung, die Europäische Union sei eben kein Staat und deshalb dürften die EU und ihre Organe nur tun, wozu sie von den Mitgliedstaaten ermächtigt wurden. Voßkuhle hatte diese Sicht von der EU bereits in mehreren Urteilen zum Grundsatz gemacht. Spätestens an diesem Punkt witterte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen zu Recht Zündstoff für die Gemeinschaft. Denn die ohnehin wegen ihrer Verstöße gegen Rechtstaatlichkeit und demokratische Werte umstrittenen Staaten Polen und Ungarn können damit ihren bisherigen Ungehorsam gegen Urteile aus Luxemburg begründen. „Dass sich Karlsruhe gegen den EuGH stellt und die Autorität des Europarechts untergräbt, ist langfristig ein schwerer Fehler“, kommentierte der CSU-Politiker und Fraktionschef der Christdemokraten im EU-Parlament, Manfred Weber. Wie richtig er liegt, zeigte ein Zitat des polnischen Vize-Außenministers Sebastian Kaleta: „Das deutsche Verfassungsgericht hat nichts anderes gesagt, als dass die EU so viel darf, wie ihr die Mitgliedstaaten gestatten.“ Für Warschau, Budapest und andere wäre diese Rechtsauffassung ein Freibrief, EuGH-Entscheidungen noch mehr als bisher zu ignorieren.

Der Spiegel spricht vom GAU

Der „Spiegel“ nannte das bereits den „größten anzunehmenden Unfall: eine EU, in der sich alle gegenseitig verklagen und niemand mehr weiß, wer der Schiedsrichter ist“.

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