Cum-Ex-Prozessauftakt Staat um mehr als 440 Millionen Euro betrogen

Bonn · Zwei britische ehemalige Aktienhändler stehen in Bonn vor Gericht. Sie sollen mit Cum-Ex-Geschäften den Staat um mehr als 440 Millionen Euro betrogen haben.

 Unermüdlich ermittelt: Die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker ist im In- und Ausland unterwegs gewesen.

Unermüdlich ermittelt: Die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker ist im In- und Ausland unterwegs gewesen.

Foto: Benjamin Westhoff

Auf diesen Tag hat Anne Brorhilker lange hingefiebert. Mit einer Beharrlichkeit, die die schmale Frau mit den schulterlangen offenen Haaren offenbar auszeichnet, hat sie jahrelang wegen schwerer Steuerhinterziehung ermittelt, ist kreuz und quer im In- und Ausland unterwegs gewesen, um Tatverdächtige zu vernehmen. Zwei von ihnen sitzen der Kölner Staatsanwältin Brorhilker an diesem Mittwoch im Bonner Landgericht erstmals gegenüber auf der Anklagebank. Der Prozess könnte der Auftakt zum größten Steuerstrafkomplex in Deutschland werden.

Angeklagt sind die britischen ehemaligen Aktienhändler M. S. (41) und N. D. (38), sie sollen Teil eines europaweiten Netzwerks von Bankern, Brokern, Wirtschaftsprüfern und Rechtsanwälten gewesen sein, die den deutschen Staat um Milliarden Euro betrogen haben sollen. Als sie am Morgen den Großen Schwurgerichtssaal betreten, in dem sie die nächsten Monate bis zu drei Mal wöchentlich erscheinen sollen, bedecken sie nicht wie andere Angeklagte ihre Gesichter mit Kapuzen, Jacken oder einer Aktenmappe, sondern lassen sich von Dutzenden Fotografen freimütig fotografieren.

Verlesung der Anklage dauert über zwei Stunden

Beide tragen blaue Anzüge und weiße Hemden, D. eine Krawatte, S. hat den Kragen offen und einen beigen Pullover unter dem Sakko angezogen. Die Zuschauer blicken in freundliche Gesichter, D., der Jüngere, mit akkuratem Kurzhaarschnitt, könnte auch als Dressman Karriere machen. Außer von ihren Verteidigern werden die Angeklagten von drei Dolmetschern begrüßt. Zwei sind englische Muttersprachler, sie übersetzen die Äußerungen im Gericht ins Englische, S. und D. sind als britische Staatsbürger aus London angereist. Der dritte Übersetzer wird bei den Vernehmungen der Angeklagten ihre Aussagen ins Deutsche übertragen. Doch so weit ist es an diesem Tag der Prozesseröffnung noch nicht.

Vor dicht gefüllten Stuhlreihen – Zuhörer und Journalisten sind zahlreich erschienen – verliest Brorhilker die Anklage. Für die 55 Seiten benötigt sie fast fast zweieinhalb Stunden. Die Taten, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, fanden zwischen 2006 und 2011 statt. Es geht darum, dass über Jahre "unrichtige und unvollständige Aussagen" gegenüber den Steuerbehörden gemacht wurden, genau gesagt gegenüber dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) in Bonn. Eine Vertreterin der Behörde sitzt neben den beiden Staatsanwältinnen, sie will den Prozess genau verfolgen.

Ziel waren Steuerrückerstattungen

Brorhilker verwendet erstmals den Begriff, der solche Furore in den vergangenen Jahren gemacht hat: S. und D. hätten den gemeinsamen Tatentschluss gefasst, sogenannte Cum-Ex-Geschäfte mit anderen Beteiligten zu betreiben. Es ging um Aktiendeals um den Dividendenstichtag herum, bei denen Aktien mit ("cum") und ohne ("ex") Dividendenanspruch mittels Leerverkäufen den Besitzer mehrfach wechselten. Ziel der Geschäfte sei die betrügerische Erlangung von Steuerrückerstattungen gewesen, erklärt Brorhilker. Den Käufern eines Leergeschäfts wurden Bescheinigungen über bezahlte Kapitalertragsteuer und Solidarzuschlag ausgestellt, obwohl sie diese nie geleistet hatten. Sie konnten sich dann diese Steuerbeträge beim BZSt unter Anrechnung ihrer übrigen Steuerlasten zurückholen. Unter dem Strich haben sie den deutschen Staat laut Anklage um mehr als 440 Millionen Euro betrogen.

Brorhilker schildert, wie S. und D. ihr Netzwerk über die Jahre aufgebaut haben. Beide waren zunächst bei der Hypovereinsbank beschäftigt, später machte sich zunächst S. mit einer eigenen Wertpapapiermanagementgesellschaft selbstständig, 2009 wechselte dann auch D. dort hin.

"Es wurde ein konkreter Transaktionsplan für den deutschen Markt erstellt", sagt die Staatsanwältin. Denn die Geschäfte mussten im großen Stil betrieben werden: es brauchte Investoren, Depotbanken, Aktienhändler, Rechtsanwälte, die die nötigen juristischen Kenntnisse mitbrachten, wie die Deals zu vermitteln waren. "Es bedurfte besonderer Expertise und besonderer Kontakte", sagt Brorhilker. Zur Absicherung der Aktiengeschäfte wurden auch Derivate gehandelt, schließlich durfte der Aktienmarkt nicht durchgerüttelt werden.

Angeklagter ist angesehener Mathematiker in England

Von S. ist bekannt, dass er einer der "besten Mathematiker" sei, die England hervorgebracht habe. So hat "Zeit Online" einen Londoner Aktienhändler zitiert. Brorhilker zufolge spielten Excel-Tabellen bei den Tricksereien eine zentrale Rolle: Darin waren die Anteilsgeber und -nehmer der Karusselgeschäfte verzeichnet. Zunächst wurden die Cum-Ex-Geschäfte nur im Interbankenhandel getätigt, später gab es auch private Investoren, dafür seien dann spezielle Cum-Ex-Fonds gegründet worden.

Nachdem die Anklage verlesen ist, gibt das Landgericht den Hinweis, dass in einigen Fällen auch lediglich Beihilfe zur Steuerhinterziehung in Frage kommen könnte, da sich S. mit der Zeit immer mehr aus den Cum-Ex-Geschäften zurückgezogen habe. Unter dem Strich ändert das nach Angaben eines Gerichtssprechers aber nichts an der Schwere der Taten, sollte es einen Schuldspruch geben. Und es ändert nichts daran, dass S. und D. in ihren Vernehmungen im Laufe der Ermittlungen zahlreiche Beteiligte belastet haben.

Frage nach Vorsatz muss geklärt werden

Bei der Anklageverlesung verweist Brorhilker immer wieder auf "gesondert Verfolgte", es fallen Namen wie die des Rechtsanwalts Hanno B., der sich vor einer Anklage durch die Frankfurter Staatsanwaltschaft in die Schweiz geflüchtet hat.

Am ersten Prozesstag in Bonn will sich nur der Angeklagte S. durch seine Verteidigerin zu den Vorwürfen äußern. Rechtsanwältin Hellen Schilling sagt: "S. hat eine schwierige und mutige Entscheidung getroffen", als er zu den Vernehmungen 2017 nach Deutschland gereist sei. Er sei nicht sicher gewesen, ob er als freier Mann wieder ausreisen könnte. S. sei nicht der einzige Beteiligte "und er ist keine zentrale Figur", so seine Verteidigerin. Der Angeklagte stehe aber dazu, vor Gericht seine Aussagen aus den Vernehmungen zu wiederholen. Das ist der entscheidende Satz: So könnte S. dabei helfen zu klären, ob die Cum-Ex-Deals vorsätzlich waren oder nur eine steuerliche Gesetzeslücke ausnutzten.

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