Stefan Decker im Interview Fraunhofer-FIT-Chef fordert mehr ethische Entscheidungen

Sankt Augustin · Fraunhofer-FIT-Chef Stefan Decker über Folgen der Digitalisierung vom vernetzten Fahrschein bis zum Killer-Roboter. Das Forschungszentrum im Sankt Augustiner Schloss Birlinghoven feiert 35-jähriges Bestehen.

Das Fraunhofer FIT Institut entwickelt in Sankt Augustin seit 35 Jahren Anwendungen der IT-Forschung. Bitte ein Beispiel für Computer-Laien.

Stefan Decker: Gerne. Wir haben ein Programm entwickelt, mit dem wir die finanziellen Folgen von Gesetzesänderungen, etwa bei der Rente oder beim Kindergeld, ausrechnen können. Damit waren wir eng in die Koalitionsgespräche in Berlin eingebunden. Während der Verhandlungen haben wir im Auftrag der Ministerien ausgerechnet, was die diskutierten Veränderungen für den Bundeshaushalt bedeuten würden.

Der deutsche Mittelstand gilt als zurückhaltend bei der Digitalisierung. Wie schätzen Sie das Interesse der Wirtschaft ein?

Decker: Das Bewusstsein ist vorhanden, dass Digitalisierung unvermeidlich ist und Fraunhofer FIT arbeitet mit zahlreichen Firmen zusammen. Wir haben zum Beispiel für ein Unternehmen aus der Finanzbranche die virtuelle Visualisierung eines geplanten Neubaus auf dem Firmengelände visualisiert. Planer und Bauherren können damit das neue Gebäude schon vor dem Bau an Ort und Stelle betrachten. Für und mit Bayer entwickeln wir ebenfalls Software zur Digitalisierung. Laborarbeiter bekommen über Datenbrillen angezeigt, was sie zu mischen haben und wo sich die benötigten Zutaten befinden.

Also ist Virtuelle Realität (VR) ein Wirtschaftsfaktor mit wachsender Bedeutung?

Decker: Die reinen VR-Brillen, wie etwa Oculus Rift, werden wohl erst einmal weiter vorwiegend bei Computerspielen eingesetzt. Für die Wirtschaft sind Datenbrillen interessanter, die dem Nutzer wie ein Bildschirm Informationen liefern. Diese Datenbrillen werden immer unauffälliger und weniger störend und werden sich als Assistenzsysteme weiter durchsetzen.

Von welchen neuen Technologien werden auch Verbraucher profitieren?

Decker: Die wichtigsten Technologien sind die, die man gar nicht sieht. Viele Schranken, die es heute noch gibt, werden verschwinden. Zum Beispiel beim Thema Mobilität: Wer sich heute mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegt, muss sich Routen von Bus, Bahn und Flugzeug einzeln im Netz zusammenfügen. In Zukunft wird über eine Suchanfrage eine gesamte Transportkette abrufbar sein – bis hin zum Leihfahrrad. Auch selbstfahrende Autos werden für den Massenmarkt kommen.

Welche Technologie steckt hinter diesen Entwicklungen?

Decker: Vieles in der Forschung dreht sich heute um die sogenannte Dateninteroperabilität. Eine der herausragenden Fragen der Digitalisierung ist, wie man ausgetauschte Daten auch standardisiert analysieren kann. Wir können Bits zwar bereits beliebig hin und her schieben, aber unser Ziel ist es, aus Daten automatisiert Nutzen zu ziehen. Für die Medizin- und Pharmabranche etwa wäre es ein riesiger Fortschritt, wenn Forschungsdaten weltweit ausgetauscht und daraus Erkenntnisse generiert werden könnten.

Datenschützer und Verbraucher sehen den Datenaustausch in diesen Fällen immer kritischer.

Decker: Völlig zurecht! Es ist gut, dass wir mit der Datenschutzgrundverordnung zumindest in Europa nun ein Regelwerk haben, das der unbegrenzten Datennutzung einen Riegel vorschiebt. Gleichzeitig verhindert Datenschutz aber auch manchmal hilfreiche Anwendungen. Am Ende muss man in jedem Fall zwischen dem Recht des Einzelnen auf seine Daten und dem Nutzen, den die Gesellschaft als Ganzes aus einer Anwendung ziehen kann, abwägen.

Wie sicher sind Daten im Netz?

Decker: Da gibt es noch viel zu tun. Wir arbeiten zum Beispiel daran, Daten so zu verschlüsseln, dass die personenbezogenen Informationen sicher sind, aber trotzdem die Gesamtmenge der Daten für Dritte auswertbar bleibt. Gleichzeitig geht der Trend dahin, dass Daten nicht mehr exportiert werden, sondern dort bleiben, wo sie entstehen, etwa in einem Krankenhaus.

Wo sehen Sie Gefahren der Digitalisierung?

Decker: Je autonomer Systeme werden, desto schwieriger wird es, ihnen ethische Entscheidungen zu überlassen. Das Problem zeigt sich unter anderem beim autonomen Fahren. Soll das Fahrzeug einem Fußgänger ausweichen, wenn es dadurch mit einem anderen Auto kollidiert? Wir werden nicht darum herumkommen, zu entscheiden, welche Art von Ethik wir wollen. Dabei geht es zum Teil um Fragestellungen, die wir auch im realen Leben nicht wirklich geklärt haben, weil wir sie dem freien Willen des Einzelnen überlassen. Bei Robotern müssen wir diese Entscheidungen aber nun programmieren. Diese ethischen Entscheidungsregeln für unsere Gesellschaft aufzustellen, wird uns noch vor große Herausforderungen stellen. Ein anderes schwieriges Thema ist die militärische Nutzung von künstlicher Intelligenz. Zuletzt hat sich ein europäischer IT-Verband mit einem offenen Brief gegen den Einsatz von sogenannten Killer-Robots ausgesprochen.

Es heißt, dass die amerikanische IT-Industrie Europa abgehängt hat.

Decker: Bei der Forschung ist das definitiv nicht der Fall. Aber bei der Umsetzung der Forschungsergebnisse sind die Amerikaner oft schneller. Das liegt auch an der höheren Flexibilität des dortigen Wirtschaftssystems. In den USA herrscht ein entfesselter Kapitalismus. Das führt auch dazu, dass Firmen Geschäftsideen schneller umsetzen und wenn es nicht funktioniert auch schnell wieder einstampfen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Der Party-Professor
Wissenschaftler in Bonn Der Party-Professor
Zum Thema
Aus dem Ressort