Ein Unternehmen auf der Anklagebank

Ein Prozess, der Wirtschaftsgeschichte schreiben könnte: 14 500 Anteilseigner verklagen den Bonner Konzern - Das Frankfurter Gericht will die Klageflut mit Musterverfahren bewältigen

  Nach einem anfänglichen Höhenflug  sank der Kurs der T-Aktie in den Keller.

Nach einem anfänglichen Höhenflug sank der Kurs der T-Aktie in den Keller.

Foto: dpa

Frankfurt/Main. Otto Uebelhör sitzt im Zuschauerraum, gleich in der ersten Reihe. Um pünktlich beim Prozess gegen die Deutsche Telekom im Frankfurter Landgericht zu sein, ist der Augenoptiker bereits am Vorabend aus München angereist. "Den Kopf in den Sand zu stecken bringt ja nichts", sagt Uebelhör.

"Zorn, aber auch Hoffnung" verbindet er mit seinem Besuch und klopft auf ein Blatt Papier mit einer Kurve, die den rasanten Verfall des Aktienkurses der Deutschen Telekom seit dem Sommer 2000 zeigt.

Uebelhörs Klage gehört nicht zu den zehn exemplarischen Fällen, die der Vorsitzende Richter Meinrad Wösthoff für den Beginn ausgesucht hat. "Heute wird hier Rechtsgeschichte geschrieben", ist Rechtsanwalt Andreas Tilp überzeugt. Rund 14 500 Kleinanleger haben den Bonner Konzern auf Schadenersatz verklagt - eine neue Dimension bei Wirtschaftsverfahren.

Optiker Uebelhör hätte an diesem Morgen gar nicht so pünktlich sein müssen. Die Straße vor dem Nebeneingang des Gerichtssaales ist zwar mit Übertragungswagen verstopft. Das Besucherinteresse aber ist nicht überwältigend. Saal 165 C mit seinen rund 165 Zuhörer- und Presseplätzen ist gut besetzt, aber nicht überfüllt. Viele Anwälte haben ihren Mandanten geraten, gar nicht erst anzureisen. Die Emotionen könnten zu hoch kochen.

Auch Richter Wösthoff lässt gelegentlich Gefühle durchschimmern. Er ist seit gut einem Jahr Vorsitzender Richter der siebten Kammer für Handelssachen beim Landgericht Frankfurt. Mit dem Mammut-Prozess gegen die Telekom hat er eine Aufgabe übernommen, um die ihn wohl die wenigsten Kollegen beneiden.

"Das Gericht leidet. Gerichte sind auf einen solchen Ansturm nicht vorbereitet", gibt er gleich zu Prozessbeginn zu. Der 46-Jährige hat ausgerechnet, wie lange ihn die Telekom-Verfahren beschäftigen könnten, wenn er sie "nach klassischer Manier" abarbeitet. Bei 150 Urteilen, die er pro Jahr schaffen könne, würde es "13, 14, 15 Jahre dauern".

Wösthoff redet schnell - aber er denkt noch schneller. Das macht sich bemerkbar an den vielen Sätzen, die er beginnt und nicht zu Ende bringt. Einschübe mit neuen Gedanken verschachteln gelegentlich seine Sätze. Aber er hat ein klares Konzept vom Prozessauftakt, redet zwei Stunden fast vollständig frei und auch für juristische Laien verständlich.

16 Rechtsanwälte vertreten die zehn ausgewählten Musterkläger, acht Rechtsanwälte das beklagte Unternehmen, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, den Bund, die beim Börsengang hauptverantwortliche Deutsche Bank und Ex-Vorstandschef Ron Sommer. Insgesamt sind 738 Advokaten für die Kläger tätig. Ein Umstand, der Wösthoff Kopfzerbrechen bereitet: "Jeder von ihnen wird den gleichen Sachverhalt etwas anders vortragen."

Der schlanke, dunkelhaarige Jurist macht deshalb gegen Mittag einen Vorschlag, den Rechtsanwalt Tilp später als "revolutionär" bezeichnen wird: Gerade in der vergangenen Woche hat das Bundeskabinett einen Entwurf für ein "Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz" verabschiedet.

Wösthoff will den Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens abwarten, damit dann vor dem Oberlandesgericht eine Musterklage beraten werden kann. Alle anderen Verfahren würden so lange ruhen. Die Kosten des Musterverfahrens würden auf alle Kläger verteilt, versucht Wösthoff die Anwälte zu überzeugen.

Denn die Frage der Kostenübernahme ist ein großer Knackpunkt des Verfahrens. Ein wesentlicher Vorwurf der Kläger richtet sich gegen eine angeblich falsche Immobilienbewertung der Telekom bei der Unternehmensgründung 1995. Zur Klärung dieser Vorwürfe könnte ein Gutachten erforderlich sein. Mögliche Kosten: bis zu 20 Millionen Euro.

Der Richter gibt zu erkennen, dass er die Zulässigkeit des vom Unternehmen gewählten Verfahrens zur Immobilienbewertung bezweifelt: "Das Clusterverfahren hätte es nicht unbedingt sein müssen." Die Telekom hatte bei der Gründung ihre kleineren Immobilien zu Gruppen (Clustern) zusammengefasst und pauschal bewertet. Allerdings will Wösthoff diese Aussage nicht als Vorentscheidung verstanden wissen: Auch eine falsche Bewertungsmethode könne in der Summe zu dem richtigen Ergebnis führen.

Die Telekom hatte den Wert ihrer Immobilien im Börsenprospekt für den Verkauf der T-Aktien im Jahr 2000 mit 17,2 Milliarden Euro angegeben. Ein Jahr später korrigierte sie den Wert um 2,9 Milliarden Euro nach unten. Ein Börsenprospekt beinhaltet wichtige Fakten bei einer Aktienemission, beispielsweise auch über Risiken. Das Unternehmen haftet für die Richtigkeit aller Angaben.

Telekom-Anwalt Bernd-Wilhelm Schmitz weist die Vorwürfe zurück: Der Wert von 17,2 Milliarden Euro sei richtig gewesen. Das werde von mehreren Gutachten gestützt. Im Übrigen zähle das Ergebnis, nicht die Methode. Naturgemäß sieht das die Klägerseite anders: Anwalt Klaus Rotter spricht von einem "krassen" Verstoß gegen die Prospekthaftung.

Richter Wösthoff vertagt das Verfahren am Nachmittag - auf den 21. Juni 2005. "Aus Praktikabilitätsgründen" sei ein früherer Termin nicht möglich, da zunächst noch Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Bonn ausgewertet werden sollen.

Augenoptiker Uebelhör hat nach mehreren Stunden Prozessdauer Vertrauen in die Justiz gewonnen: "Der Richter macht das ordentlich." Er hofft, dass sich der Gesetzgeber in nächster Zeit Gedanken um die Verbesserung des Anlegerschutzes macht. Da gebe es deutliche Lücken.

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