Industriegeschichte in der Region Das "schwarze Gold" des Vorgebirges

MECKENHEIM · Manche Unternehmen leben davon, ständig neue Produkte auf den Markt zu bringen. Andere verdienen ihr Geld damit, dass (fast) alles so bleibt, wie es immer war. Zu letzteren gehört die Grafschafter Krautfabrik Josef Schmitz.

Stefan Franceschini führt das Unternehmen in vierter Generation.

Stefan Franceschini führt das Unternehmen in vierter Generation.

Foto: Wolfgang Henry

Seit 114 Jahren liefern die Bauern aus der Umgebung Zuckerrüben in die Anlage hinter den roten Backsteinmauern an der Wormersdorfer Straße in Meckenheim. Das simple Rezept ist unverändert: Die Feldfrüchte werden gewaschen, gehackt und ohne weitere Zutaten so lange gekocht, bis eine zähflüssige schwarz-braune Masse entsteht - das Rübenkraut.

Stefan Franceschini leitet das Familienunternehmen in der vierten Generation, und er weiß, dass die Rübenkraut-Kundschaft keine Experimente liebt. Der 45-jährige nimmt einen charakteristischen gelben Pappbecher mit "Original Grafschafter Goldsaft" in die Hand. Das Etikett zeigt eine Vorgebirgs-Landschaft mit Rübenacker und Apfelbäumen, im Hintergrund die Rheinbacher Tomburg. Mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind zwei Figuren die Äpfel pflücken. "Die waren vorher nicht drauf", sagt Franceschini, "das war unsere letzte Modernisierung der Verpackung". Schließlich hat sein Großvater Albert Schmitz 1953 den gelben Becher erfunden und sich damit von der Konkurrenz im Marmeladenglas abgesetzt. Tradition verpflichtet.

Als Franceschinis Urgroßvater Josef Schmitz das Unternehmen 1893 am heutigen Standort gründete, spielte der süße Sirup allerdings noch keine Rolle. Schmitz baute zuerst eine Feldbrandziegelei auf, in der er den Lehm aus den angrenzenden Äckern verarbeitete. Erst sieben Jahre später entdeckte der Meckenheimer Unternehmer die Rübenkraut-Herstellung als Zubrot, auch um die Arbeiter im Winter zu beschäftigen, wenn die Nachfrage am Bau ruht.

Das Geschäft läuft. An der Wormersdorfer Straße werden künftig nicht nur Ziegel und Rübenkraut produziert, sondern auch die Holzfässer, in denen der Sirup an die Geschäfte ausgeliefert wurde. Rübenkraut stand auf nahezu jedem rheinischen Frühstückstisch, als Honig und Marmelade zu teuer waren und Nutella noch Zukunftsmusik. Vor allem in Kriegszeiten war das Kraut beliebt, die Fabrik blieb von den starken Zerstörungen in Meckenheim verschont. In der Nachkriegszeit legt sich erst einmal die Begeisterung für den Rüben-Aufstrich. "Mit dem Wirtschaftswunder kamen viele neue Brotaufstriche auf den Markt", sagt Franceschini. Die Folge: Von ehemals rund 500 industriellen Rübenkraut-Herstellern in Deutschland, sei heute nur noch eine knappe Handvoll übrig, so Franceschini.

Das Überleben der Branche ist straff durchorganisiert. Die verbliebenen Hersteller haben die "Schutzgemeinschaft Rheinischer Zuckerrübensirup" gegründet, um die Kunden auf den Geschmack zu bringen. Sie werben mit regionaler Herkunft, Freiheit von Zusatzstoffen und Rezepten für Sauerbraten und Schwarzbrot. "Aber das schlimme ist, dass viele Leute schon gar nicht mehr frühstücken", seufzt Stefan Franceschini.

Er ist mit der Rübe auf dem Brot aufgewachsen. Seine Kindheit hat er im Firmengebäude verbracht. Wo heute im ersten Stock die Schreibtische von Marketing und Vertrieb stehen, lag früher das Wohnzimmer seiner Großeltern. Im Erdgeschoss steht im ehemaligen Eingangsraum noch der alte Eichentisch neben den abgewetzten Stoffsesseln.

An der Wand hängen die Pferdebilder von damals, als Albert Schmitz über die Krautproduktion wachte. Er nahm 1968 seinen Schwiegersohn, den ehemaligen Bonner Präsidenten der Industrie- und Handelskammer, Ernst Franceschini mit in den Betrieb auf, der das Unternehmen durch Zukäufe und Kooperationen stärkte. Bis 1995 lief auch die Ziegelei weiter, aus der die meisten Steine der Gebäude auf dem Firmengelände stammen.

Für Stefan Franceschini ist das Geschäft mit der Rübe "ein Glück und Verantwortung zugleich". Mit etwa 32 Millionen Euro Jahresumsatz und 90 Beschäftigten entwickele sich das Unternehmen seit Jahren relativ stabil, sagt er. Seit den 90er Jahren mischt Grafschafter auch Flüssigzucker für die Industrie, um Nachfrageschwankungen beim Brotaufstrich ausgleichen. Zuletzt hat das Unternehmen in eine neue Abfüllanlage investiert - vollautomatisch laufen jedes Jahr 12 000 Tonnen Rübenkrauf in Becher, Flaschen und Kanister. Dazu kommen rund 500 Tonnen Apfelkraut.

Betriebsamkeit herrscht auf dem Betriebsgelände vor allem von Mitte September bis Mitte Dezember, wenn die 140 Vertragslandwirte ihre Rüben an der Wormersdorfer Straße anliefern. Dann geht es wieder ganz traditionell zu, etwa wenn der "Schmutzschätzer" seine Arbeit verrichtet. Diese Fachleute haben ein Auge dafür, wie viel Erde an einer Ladung Rüben klebt. Denn der Preis richtet sich auch nach der Menge Schmutz, den die Krautfabrik entsorgen muss. Damals wie heute.

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