Russische Wirtschaft "Auf das Schlimmste gefasst machen"

Tscheboksary/Moskau · Seit gestern tobt der Schneesturm, das wirbelnde weiße Nichts scheint den Vorort Tschandrowo, die Wolga-Stadt Tscheboksary, ganz Zentralrussland verschlucken zu wollen. Eine Schneewehe drückt gegen das Zufahrtstor, aber Oleg, der Hausherr, sorgt sich nicht.

 Das Herz der Wirtschaft hat Probleme: Ein Gas- und Kondensatorensystem in Novy Urengoi (Sibirien).

Das Herz der Wirtschaft hat Probleme: Ein Gas- und Kondensatorensystem in Novy Urengoi (Sibirien).

Foto: Wintershall

Er werde einfach den chinesischen Handtraktor mit der eingebauten Schneekanone anwerfen, sagt er. "Den habe ich vergangenen Frühling für 15 000 Rubel gekauft, jetzt kostet er 25 000."

25 000 Rubel, angesichts des Rubelzerfalls, sind das gerade 300 Euro, aber fast 75 Prozent des offiziellen russischen Monatsdurchschnittsgehalts. Und laut Oleg zwei tatsächliche Monatsgehälter eines Arbeiters in der Traktorenfabrik Tscheboksary. "Wir haben hier noch unser eigenes Proletariat." Und für das drohen Handtraktoren immer unbezahlbarer zu werden.

Russlands Wirtschaftskrise hat selbst die Politiker erreicht. "Wir müssen auf jede mögliche Entwicklung vorbereitet sein", sagte Wladimir Putin, eigentlich ein notorischer Optimist. "Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen", Premierminister Dmitri Medwedew klang schon richtig ängstlich.

Der Ölpreis ist inzwischen auf 30 Dollar für ein Barrel Brent gefallen. Der Staatshaushalt 2016, vor allem aus den Steuern für Ölexporte finanziert, aber basiert auf 50 Dollar pro Barrel. Auch Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew unkt, der Preis könne auf 20 bis 15 Dollar abstürzen. Exfinanzminister und Putinfreund Alexei Kudrin rechnet mit einer Haushaltsminus von über zwölf Milliarden Euro und erklärt die für Februar versprochene Rentenerhöhung für unmöglich.

Offiziell liegt die russische Durchschnittsrente bei gut 13 000 Rubel, etwa 160 Euro, aber nicht nur in Tscheboksary leben viele Pensionäre bereits unter dem monatlichen Existenzminimum von umgerechnet 107 Euro. "Das reicht nicht zum Leben", schreibt die Internetzeitung gazeta.ru. Der Euro kostet inzwischen über 83 Rubel, doppelt soviel wie im Frühjahr 2014.

2015 gab es mit 12,9 Prozent eine Rekordinflation, Obst und Gemüse verteuerten sich um fast 30 Prozent, für 2016 rechnet Kudrin mit weiteren 12 Prozent. Die Zahl verkaufter Pkw in Russland fiel im Dezember gegenüber dem Vorjahr um 45 Prozent, gerade in der Provinz kämpfen viele Händler gegen den Bankrott. "Die Leute werden mehr Kartoffeln pflanzen, um die Krise zu überstehen", sagt die Soziologin Natalia Surabewitsch.

Auch unter den Schneewehen hinter Olegs dreistöckigem Haus schlummern Gemüsebeete. Krise? "Wir merken nicht viel davon", sagt Oleg. Sein Glück: Er leitet in der Stadt keine Autohandlung sondern ein Geschäft für Autoreifen. "Reifen kaufen die Leute auch, wenn sie sich kein neues Auto leisten können", erklärt Oleg. Er verdient umgerechnet 670 Euro im Monat, in Zentralrussland ein oberes Mittelklassegehalt. Der studierte Ingenieur ist begeisterter Heimwerker, installiert gerade mit seinem Schwiegervater eine Gästetoilette in seinem Haus in Tschandrowo. Sicher, den Rohbau auf dem Grundstück am andere Ende von Tscheboksary, das ihm der Staat für seine drei Söhne kostenlos überließ, hat er eingefroren. Aber weniger wegen gestiegener Baustoffpreise, sagt er, als aus Zeitmangel. Dass sich die Kosten für Pauschalurlaube in Bulgarien oder Spanien durch den Rubelsturz verdoppelt haben, stört Oleg auch nicht. "In unserer Familie hat sowieso niemand eine Reisepass."

Provinzrussland hat schon vor der Krise Bescheidenheit gehegt. Jetzt warten in 15 Regionen die Lehrer auf ihre Gehälter, die Zentralbank hat vergangenes Jahr 90 Banken die Lizenz entzogen, aber Bedienstete und Sparer bleiben ruhig. "Die Bevölkerung ist dabei, sich an die Armut zu gewöhnen", schreibt die Nesawissimaja Gazeta. Und die staatlich zensierten Medien beschönigen nach Kräften: Keine Rentenerhöhung? Freut euch, ihr kriegt ja noch Renten! Kurzarbeit? Hauptsache, dass eure Fabrik noch nicht zugemacht hat!

Aber im Moskauer Zentrum, unter Experten, wächst die Unruhe. Der liberale Ökonomist Wladislaw Inosemzew wirft Wladimir Putin in der Zeitung RBK Daily vor, er habe in 16 Jahren an der Macht 960 Milliarden Dollar für Kriegszwecke ausgegeben, aber nichts getan, um die drogenhafte Abhängigkeit des Landes vom Rohstoffexport zu beenden. Irritationen ruft auch Putins jüngstes Interview mit der Bild-Zeitung hervor. Der Staatschef verkündete dort, der Wegfall der Öldollars stimuliere die russischen Wirtschaft nur: Statt ausländische Hochtechnologie zu importieren, habe man erfolgreich Investitionsprogramme gestartet, um diese in Russland herzustellen.

Mehrere Fachleute widersprechen: Die Regierung mache keinerlei Anstalten, etwas zu reformieren oder zu modernisieren. "Wir haben die Jahre mit hohen Öl- und Gaseinnahmen nicht genutzt, um die Wirtschaft zu diversifizieren", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Pawel Kudjukin. "Das Schrumpfen dieser Einnahmen aber mindert auch die Möglichkeiten, in innovative Bereiche zu investieren."

Und die durchaus regimetreue Boulevardzeitung Moskowski Komsomoljez rechnet vor, dass Putin gegenüber Bild von 450 Milliarden Dollar russischer Währungsreserven sprach, diese aber tatsächlich nur 300 Milliarden Dollar betragen. In Oppositionskreisen wird spekuliert, ob die Währungsreserven in Wirklichkeit nicht schon gegen Null schmelzen.

Auch weniger oppositionelle Kreise mucken auf. Michail Rostowski, kremlnaher Starautor des Moskowski Komsomoljez, kritisiert in einem Kommentar Regierungschef Medwedew als "Schönwetterpremier", fordert auch Putin auf, sich mehr um die ökonomische Fragen zu kümmern. "Das reale Problem liegt darin, dass im heutigen Russland die Wirtschaft wie die ungeliebte Stiefmutter der Außenpolitik behandelt wird." Rostowski, nebenher Kommentator der Staatsagentur Ria Nowosti, gilt als einer, der die Stimmung in der Elite sehr gut kennt.

Diese Stimmung scheint richtig mies zu sein. In anderen Weltgegenden geben zunehmend kleine, innovative Betriebe den Ton an, entstehen neue Energietechnologien und virtuelle Branchen, in Russland dominieren weiter riesige, träge, Staatskonzerne sowie eine korrupte Bürokratie, die vor allem junge Unternehmen oft schlicht erstickt.

Und die Krise wälzt sich weiter. "Sie geht langsam vonstatten, weil wir es mit der Erosion eines untauglichen Modells zu tun haben, nicht mit einer einfachen zyklischen Konjunkturschwäche", schreibt die Wirtschaftszeitung Wedomosti. "Und gerade das ist für Russland dramatisch." Russland droht dauerhafter Niedergang.

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